Türkei: 2017 beginnt mit Terror

Der IS bekennt sich zum Anschlag in Istanbul. Es gelingt Erdogan nicht, sein Sicherheitsversprechen einzulösen

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Das neue Jahr begann in Istanbul so, wie das alte endete: mit Terror. Im Jahr 2016 starben mehr als 400 Menschen in der Türkei bei Terroranschlägen. Am 1. Januar kamen weitere 39 hinzu, mehr als sechzig wurden teils schwer verletzt.

Um kurz nach ein Uhr Ortszeit drang ein Attentäter in den Nachtclub Reina am Bosporusufer in Ortaköy ein und schoss um sich. Die Opfer kamen aus der Türkei, Deutschland, Belgien, Israel, Libanon, Saudi-Arabien, Indien, Kanada, Syrien, Tunesien, Irak. Das jüngste Opfer war erst 19 Jahre alt - eine israelische Staatsbürgerin, die gemeinsam mit zwei Freundinnen die Feiertage in Istanbul verbrachte.

Das Reina ist der berühmteste Club Istanbuls, gilt als teuer und als Promi-Hot-Spot. Hier feiern vor allem Fußballer, Schauspieler, Banker und Touristen, die das nötige Kleingeld haben. In der Silvesternacht war es vor allem ein Ort, an dem Menschen aus aller Welt, mit den unterschiedlichsten Nationalitäten und Religionszugehörigkeiten, gemeinsam das neue Jahr begrüßen wollten.

Bar und Restaurant haben einen großzügigen Außenbereich, der direkt an den Bosporus grenzt, die nahegelegene Brücke erhebt sich über den Gästen und verbindet Europa und Asien. Ein Postkartenmotiv, eine der schönsten Ecken der Stadt. In der Silvesternacht wurde sie zum Blutbad. Augenzeugen berichteten von Chaos und Panik, viele sollen in den Bosporus gesprungen, andere zur Straße aus dem Reina hinaus geflüchtet sein. Vor dem Eingang hatte der Attentäter einen Wachmann und einen Polizisten erschossen.

Noch in der Nacht wurde in den Sozialen Medien die Frage laut, warum ausgerechnet das Reina nicht besser gesichert war - während rund 17.000 Polizisten in der Innenstadt patrouillierten, Taschenkontrollen durchführten, Personen abtasteten. Der Attentäter konnte im folgenden Tumult flüchten, derzeit läuft eine Großfahndung.

Am Montagmorgen bekannte sich der IS zu dem Anschlag, der in den letzten Monaten mehrfach seine Anhänger dazu aufgerufen hatte, die Türkei anzugreifen. Ob es sich um eine gezielte und von der IS-Führung organisierte oder die Aktion eines Einzeltäters war, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Laut staatlichen Medien, die Bilder von Überwachungskameras veröffentlicht haben, könnte der Angreifer aus Usbekistan stammen und soll ungefähr 25 Jahre alt sein.

Politiker aller Parteien in der Türkei verurteilten den Anschlag. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, man werde "den Terror bis zum Ende bekämpfen". Die Türkei tue alles, um ihre Bürger zu beschützen, sagte er weiter.

Für Erdogan kann die Unsicherheit zum Problem werden

Bislang gelingt ihm das allerdings nicht. Erdogan hatte 2015 im Wahlkampf versprochen, nur mit seiner Partei sei in der Türkei Sicherheit und Stabilität möglich. Aber das Gegenteil ist eingetreten. 2016 war eines der blutigsten Jahre in der jüngeren türkischen Geschichte, immer wieder sterben Zivilisten bei Terroranschlägen. Statt das IS-Problem in den Griff zu kriegen, verfolgt die AKP ihre politischen Gegner, lässt Journalisten, Kritiker und vermeintliche Gülen-Anhänger inhaftieren. Seit dem Putschversuch vom Juli wurden laut Innenministerium über 40.000 Menschen wegen Gülen-Verbindungen inhaftiert. Zwar gibt es fast täglich Meldungen über bei Militäreinsätzen "neutralisierte" IS- und PKK-Kämpfer, den Terrorismus im Inland tangiert das aber offensichtlich nicht.

Die größte Oppositionspartei CHP forderte am Montag einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der sich mit dem Anschlag befassen soll, berichtet die Hürriyet. Sie verweist auch darauf, dass all die Sicherheitsmaßnahmen, die von der AKP im Ausnahmezustand eingeführt wurden, den Terror nicht verhindern.

Für Erdogan selbst könnte die unsichere Lage am Ende zum Problem werden. Er will die geplante Verfassungsänderung, die ihn zum Alleinherrscher machen soll, im Frühjahr in einem Volksentscheid bestätigen lassen. Ende Dezember zeigte allerdings eine Umfrage, dass 58 Prozent der Türken gegen ein Präsidialsystem sind. Demnach lehnen mehr als 90 Prozent der Wähler von CHP und HDP die Reform ab, ebenso wie 20 Prozent der AKP-Wähler und mehr als 60 Prozent der Wähler der rechtsnationalen MHP, die das Präsidialsystem offiziell mitträgt und es gemeinsam mit der AKP im Parlament beschließen will. Das Präsidialsystem würde es Erdogan erlauben, dauerhaft per Dekret zu regieren und sogar das Parlament aufzulösen.