Schreckensmaschinen: Die neue Normalität

Wer kann das Hotel Goethe nicht ertragen? (Foto: Red.)

Die Automatisierung der symbolischen Terrorbewältigung - und acht weniger oft ausgesprochene Antworten auf den Terror

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Als der Anschlag in Deutschland passiert war, den sich die Islamisten und die Flüchtlingshasser so von Herzen gewünscht hatten, ratterte das automatisch-rhetorische Krisenmanagement los wie auf Knopfdruck. Einige Zeit später bleiben nur ein paar Gewissheiten und recht wenig Trost.

Die Besorgten. Die Hysterischen. Die Aufpeitscher. Die Verharmloser. Die Coolen. Die Zyniker. Die Besonnenen. Die Verschwörungstheoretiker. Die Mahner und Warner. Hassprediger zogen ihre rhetorischen Krokodilklatschen aus der Tasche. Die Safety-Check-Funktion des weltumspannenden Beziehungssimulators Facebook verbreitete ihre ganz eigene Form von Paranoia. Noch bevor überhaupt irgendetwas klar war, waren "unsere Gedanken und Gebete" schon bei den "Opfern und ihren Angehörigen".

Die Kirmesorgel

Am Abend des 19.12. und am Morgen danach wirkte die deutsche Mediensphäre wie eine Kirmesorgel, die mit Charakterköpfen von Franz Xaver Messerschmidt dekoriert worden und auf die höchste Lautstärke eingestellt war.

Die offiziellen Medien und das Netz antworteten wie ein Anrufbeantworter mit den immer gleichen Botschaften und Versatzstücken auf den immer gleichen Terror-Reiz. Und diese Botschaften und Versatzstücke sind mittlerweile so hohl, dass sie Atmosphäre des Surrealen, die der Anschlag selbst schon erzeugt hatte, in idealer Weise verstärken: ein Ruf und sein Echo.

Als die erste Welle abgeebbt war, geriet der Reaktionsautomat in die zweite Phase; die zweite Lochkartenrolle wurde in die Kirmesorgel eingelegt.

Die Kerzen wurden aufgestellt, die Trauerüberzieher für die Facebook-Avatare wurden übergezogen, man begann für die immer noch gesichts- und namenlosen Opfer zu beten, für Berlin auch, oder gleich ganz für Deutschland. Die politischen Süppchenkocher gingen für ihre Langzeitstrategien in die Startlöcher und gaben elaboriertere Pressemeldungen heraus.

Ein Zuwenig an Polizei oder Überwachung sei zu beklagen. Ein starker Staat sei die einzig richtige Antwort. Für andere trug "der Westen" Mitschuld am Islamismus und seinen mörderischen Attacken. Die Rassisten meinten hingegen wie immer, "die von da unten" seien halt "von Natur aus grausam".

Es gab schlechte gutgemeinte Demonstrationen unter der Parole, dass "Terror keine Religion habe" und richtig schlecht gemeinte, die jeden Moslem und natürlich irgendwie Angela Merkel für mörderische muslimische Lasterfahrer haftbar machen wollten.

Der Wut eine Chance geben

Die einen beschworen die unbeugsame Gelassenheit der Berliner, die anderen wollten auch mal der Wut eine Chance geben. Natürlich wurde die Erinnerung an die "Haltung" Helmut Schmidts beschworen, wobei man leider vergaß, dass der gegen Terrorismus nur etwas hatte, wenn der von Einzelnen und kleinen Gruppen ausging; argentinischer Staatsterrorismus zum Beispiel war ihm keine Rüge wert.

Allerlei Ersatzhandlungen und Ersatzgedanken also.

Die Normalisierungsphase

Wahr ist, dass es schwache Zeichen von Hoffnung gab. Bemerkenswert unchaotisch und unaufgeregt reagierte der Staatsapparat. Sinnlose nationale Muckereien hörte man nicht allzu viele. Aktionen der "identitären" Nazis und Mobilisierungen aus dem Pegida/AfD-Spektrum gingen in Lächerlichkeit und Irrelevanz unter.

Die Ausbeute des Terrorismus, den sich der rechte Rand so lang herbeigesehnt hatte, war zunächst so kümmerlich, dass ein Jürgen Elsässer schon den kommenden Marsch der "Menschen aus dem Osten" auf Berlin beschwören musste, um sich selbst Mut zu machen: "Berlin ist komatös, leprös, verfault. Erst wenn die Ostdeutschen eines Tages auf die Hauptstadt marschieren, wird es anders werden. Wir arbeiten dran…"

Im Großen und Ganzen bedeutete die einsetzende Normalisierungsphase auch: business as usual. 1975 hat der Dichter Rolf Dieter Brinkmann diese Stimmungslage treffend beschrieben:

Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die bewegt werden (…) Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.

Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts 1 & 2, 1975