Ich, Opfer, gegen Videoüberwachung

Plädoyer eines Geschlagenen gegen die Befilmung des öffentlichen Raumes

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Die Gründe scheinen unschlagbar: Der U-Bahn-Treter von Berlin oder die Obdachlosen-Anzünder wurden überführt aufgrund der Bilder einer Überwachungskamera.

Das Thema ist an prominenter Stelle wieder auf der Agenda. Die Vertreter eines starken Staats gehen in die Offensive. Der Bundesinnenminister (CDU) ist für die Ausweitung der Observation des öffentlichen Raumes mittels Videotechnik, genauso wie der Regierende Bürgermeister von Berlin (SPD), und nach einer ARD-Umfrage gleichfalls 79 Prozent der Befragten. In den Gazetten bekommen die Befürworter Platz eingeräumt und huldigen ungeniert dem "Big Brother" (Berliner Zeitung: "Kameras schauen wenigstens nicht weg"). Logischerweise müssen dann auch die Rechte des Datenschutzes geschliffen werden.

Reagieren sie auf Verunsicherung oder schüren sie sie?

Vielen Dank für die konsequenten Plädoyers pro grenzenloser Raumüberwachung, könnte man auch sagen. Denn es hilft, sich zu vergewissern, warum man dagegen ist. Zunächst aber: Auch ich wurde einmal Opfer einer Gewalttat - und bin dennoch strikt gegen jegliche Videoüberwachung des öffentlichen Raumes. Hier mein Plädoyer.

Vor einigen Jahren bin ich auf einem Spiel- und Bolzplatz in Berlin-Neukölln von zwei Menschen schwer zusammengeschlagen und -getreten worden. In Klammern: Männer, jung, türkische Wurzeln, anderes unbekannt: z.B. IQ, Beruf, sozialer Stand, Glaube, Tagesbefindlichkeit, Grad der Frustrationstoleranz etc. pp.

Ich bin anschließend zur Polizei und habe mir die Lichtbilder der Kriminellendatei angeschaut. Erfolglos. Das Verfahren wurde eingestellt. Trotzdem bin ich nicht dafür, dass dieser Spielplatz videoüberwacht wird, und erst recht nicht, dass alle Spielplätze befilmt werden. Auf den Plätzen passiert mehr als nur Kriminelles. Es gibt mehr als nur Täter. Und auch ich bin mehr als nur Opfer.

Es droht der polizeiliche und juristische Erstickungstod

Ich will zum Beispiel nicht aufgenommen werden, wenn ich mich vielleicht mal "am Sack" (O-Ton Lukas P.) kratze, weil es da juckt. Oder an einen Baum pinkele, weil ich muss. Ich will auch nicht, dass unbedingt festgehalten wird, wie eine Mama ihrem Kind eine schmiert, obwohl sie das normalerweise nicht tut, weil das Kind sie fortgesetzt mit Sand bewirft oder weil sie einfach gerade mit den Nerven unten ist. Ich will nicht, dass jemand am Monitor beobachtet, wie der Hund eines Rentners auf die Spielwiese scheißt. Oder ein Kind einem anderen Spielzeug wegnimmt - und es dann möglicherweise unbeobachtet von den Kameras wieder zurückgibt.

Es gibt viele tausend Situationen, wenn der Tag oder auch die Nacht lang sind, die grenzwertig sind, konfliktträchtig, asozial, viertelkriminell oder eben auch nur missverständlich. Situationen, die sich von alleine regeln, die sich relativieren oder die eben auch nicht aufgeklärt werden. Soll das alles filmisch festgehalten, bewertet und geahndet werden? Es droht der polizeiliche und juristische Erstickungstod.

Aufklärung und Verhinderung einer Straftat kann nicht das alleinige Kriterium sein - zu viel Beifang, zu viele Kleinigkeiten. Dann müsste man konsequenterweise für allgemeine Ausgangssperren plädieren - und gleichzeitig das Videoüberwachen von privaten Räumen einführen, weil sich vermehrt Straftaten dann dort ereignen würden.

Nur so nebenbei: Warum plädieren die Überwachungsfundis nicht für die amtliche Registrierung von asozialen und kriminellen Wohnverhältnissen? Was ist mit den Obdachlosen auf den ach so überwachten Plätzen? Interessiert sie das nicht? Weil man diese Notstände dann abschaffen müsste? Und weil das dann eventuell für Freiheit der Betroffenen sorgen könnte, anstatt für Disziplinierung?

Ohne Alternative?

Die Erkenntnis aus all den Pro-Überwachungs-Reden und -Kolumnen in diesen Tagen ist übrigens: Werben für den "Big Brother" ist mittlerweile modern. Das aber hat gesellschaftliche Auswirkungen, denn damit geht eine Mentalitätsveränderung einher. Weg von sozialer Verantwortung, hin zur Delegierung an eine übergeordnete Instanz inklusive Denunziantenkultur.

Seriöse Kritiker der Videoüberwachung (Jens Gnisa, Deutscher Richterbund) weisen zudem darauf hin, dass öffentliches Filmen Anschläge im Zweifel sogar "begünstigen" könnte. Täter, die mit Attentaten Propaganda machen wollen, könnten sich dafür videoüberwachte Plätze aussuchen. Ausgerechnet der mutmaßliche Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, liefert dafür möglicherweise einen Beleg. Laut Bundesanwaltschaft habe der als Zeichen der Bekennung am Bahnhof Zoo provokativ in eine Überwachungskamera "gegrüßt".

Öffentliche Sicherheit? Natürlich. Man könnte zum Beispiel an einen alten Vorschlag der ehemaligen Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer PolizistInnen erinnern, die sich für die Schaffung von mehr Polizeiwachen aussprachen - fußnah, niederschwellig, offen. So dass man schnell Hilfe holen könnte. Reviere, von der Bevölkerung nutzbar, wie ein Kiosk, was nebenbei zur Zivilisierung und Pazifizierung der Polizei beitragen kann.

Man könnte aber auch auf Zusammenhänge aufmerksam machen. Zum Beispiel, dass die Berliner Verkehrsgesellschaft vor Jahren auf nahezu allen U-Bahnhöfen sämtliches Personal abgeschafft hat. Das war gewissermaßen die Voraussetzung dafür, dass der auf einer Bank schlafende Obdachlose misshandelt werden konnte. Die Kameras sollten nur der Ersatz für das U-Bahn-Personal sein.

Den angeblichen Sicherheitsaposteln geht es bei ihrer Videopolitik nicht in erster Linie um öffentliche Sicherheit, sondern um ein Instrument, um die Aufrüstung des Exekutivstaates. Den braucht man für mögliche Krisenzeiten. Zum Beispiel gegen soziale Unruhen, die wiederum mit dem Abbau des Sozialstaates korrespondieren. Und der ist in vollem Gange.