Gemischter Schwimmunterricht: Auch für muslimische Mädchen verpflichtend

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Ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewichtet die soziale Integration und die Schulpflicht stärker als die Ansprüche der Eltern aufgrund der Religionsfreiheit

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Ein Schweizer Ehepaar, das Regeln seiner Religion, dem Islam, sehr streng befolgt, hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer Angelegenheit geklagt, die seit Jahren als Musterkonflikt in allen möglichen Berichten und Diskussionen auftaucht: Es geht um die Teilnahme der Töchter am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht der Schule.

Der EGMR gab der Klage der Eltern, welche die Töchter aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht mit Jungens befreit sehen wollten, nicht statt (siehe hierzu das ausführliche Urteil, bislang nur in französischer Sprache, oder die Pressemitteilung in Englisch).

Es ist ein Urteil mit Muster-Charakter. Denn die Entscheidung des Gerichtshofs, der über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention wacht, maß in diesem Musterfall der sozialen Integration und der Schulpflicht ein größeres Gewicht bei als Ansprüchen, die die Eltern über das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art.9 der Konvention) geltend machten.

Der gemeinsame Schwimmunterricht hat in den Augen der sieben Straßburger Richter Eigenschaften, die für das Kindeswohl und das Aufwachsen in einer Gemeinschaft sehr wichtig sind: Beim gemeinsamen Schwimmunterricht liege das Interesse nicht nur darin, Schwimmen zu lernen, so das Gericht, sondern in der Teilnahme an einer Aktivität mit allen anderen Schülern, ohne Ausnahme, die sich auf die Herkunft der Kinder oder der religiösen oder philosophischen Überzeugungen ihrer Eltern beziehen.

Nicht in eine frühe Außenseiterrolle drängen

Die soziale Einbindung war für das Gericht der leitende Gedanke. Zur Schulpflicht, in deren Rahmen die Schweizer Schule den Besuch des Schwimmunterrichts obligatorisch machte, kommt die Integrationspflicht, die beiden Töchter, um die es in dem Fall geht, sollten nicht aufgrund des Glaubens der Eltern in eine frühe Außenseiterrolle gedrängt werden.

Die Klage der Eltern vor dem EGMR ging eine längere Auseinandersetzung mit der Schule und dem Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt voraus, die dann vor Gerichten ausgetragen wurde, zuerst vor dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, dann vor einem Schweizer Bundesgericht und schließlich vor dem EGMR.

Beide Eltern haben eine schweizerisch-türkische Doppelstaatsangehörigkeit. Der Vater hat einen Abschluss in Islamwissenschaft und ist offensichtlich auch Anhänger archaischer Praktiken. 2010 - etwa zwei Jahre nach Beginn seines Konflikts mit der Schule - sorgte er in einem vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlten Dokumentarfilm für Aufsehen, "weil er das Schlagen widerspenstiger Ehefrauen als richtig bezeichnet hatte". Er trat als Sekretär der muslimischen Gemeinde Basel auf.

Burkini und gesonderte Umkleide

Die Eltern wollten nicht, dass ihre Töchter im Alter von 9 und 8 Jahren am gemischten Schwimmunterricht einer Grundschule teilnehmen. Die Schule verwies auf öffentlich einsehbare Regelungen im Merkblatt zum Umgang mit religiösen Fragen und machte geltend, dass eine Ausnahme vom Schwimmunterricht nur aus medizinischen Gründen oder erst ab dem Pubertätsalter möglich sei.

Für die Eltern war das kein überzeugendes Argument, wie aus der Urteilsbegründung zu erfahren ist. Sie machten geltend, dass, selbst wenn der Koran vorschreibe, dass eine Frau sich erst mit der Pubertät vollständig zu bedecken habe, ihr Glaube sie dazu anweisen würde, die Kinder schon zuvor auf Regeln vorzubereiten, die sie mit Einsetzen der Pubertät zu befolgen haben. Die Schule würde in dieser Angelegenheit ihre Rechte verletzen

Die Schule kam dem strengreligiösen Paar entgegen und schlug vor, dass die Mädchen einen Burkini tragen und eigene Umkleidekabinen bekommen. Die Eltern verweigerten jedoch das Angebot. Später mussten die Eltern dafür vorgesehene Bußgelder bezahlen. Berichtet wird von umgerechnet 1.292 Euro. Die Eltern zogen vor Gericht. Keines der drei gab ihnen Recht.

Islamischer Zentralrat Schweiz: Urteil ist Ausdruck wachsender Intoleranz gegenüber dem Islam

In einer ersten Reaktion bezeichnete der islamische Zentralrat der Schweiz (IZRS) das Urteil "als Ausdruck wachsender Intoleranz gegenüber dem Islam". Zwar vertritt der Zentralrat selbst die Position, dass eine Teilnahme am Schwimmunterricht, sofern das Tragen eines islamischen Schwimmanzugs nicht untersagt werde, zumutbar sein sollte.

Aber es gebe auch andere Sichtweisen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, die zu berücksichtigen seien. Religiöse Menschen gegen deren Gewissen zur Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht zu zwingen, sei nicht "zielführend". Das entspreche nicht dem "Geist einer freiheitlichen politischen Ordnung".

Es gehe ja nicht ums Schwimmenlernen. Der klagende Vater habe seinen Töchtern einen Privatlehrer zur Verfügung gestellt. Dass es vor allem um Integration gehe, klinge "in muslimischen Ohren nach einer merkwürdigen und einseitigen Inwertsetzung einer bestimmten Sicht, wie sich die Geschlechter zueinander zu verhalten haben".

Konstatiert wird eine Bruchlinie - "Der Islam sieht im Rahmen seiner Normativität eine weitestgehende Geschlechtertrennung vor. Im Westen hingegen dominiert die Idee der Geschlechtergleichheit" - und beklagt wird eine gefährliche "säkulare Intoleranz". Im strukturellen Kern der Debatte stehe "ein abhandengekommener Wille zur Toleranz – in diesem Fall seitens der Mehrheitsgesellschaft – getragen durch den EGMR – gegen eine differente Werteauffassung des Islams".