Erdogans maßgeschneidertes Präsidialsystem

Foto: Randam / CC BY-SA 3.0

Türkei: Die Regierung setzt auf ein Klima der Angst

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Kurz vor Jahresende wurden die ersten zwei von 29 Verfassungsartikeln zur Einführung eines Präsidialsystems vom Parlament mit den Stimmen von AKP und ultrarechter MHP angenommen. Dies wurde medial durch weitere Verhaftungen, Entlassungen und Demütigungen der Regimekritiker begleitet (vgl. Türkei: Streit um das Präsidialsystem): Die Regierung setzt auf ein Klima der Angst. Einerseits werden Kritiker mundtot gemacht und andererseits wird der islamistische oder nationalistische Mob zu Lynchjustiz ermutigt.

Ein Klima der Angst käme der Regierung sehr gelegen. Damit lassen sich die Massen an den "Retter der Türken" binden. Daran arbeitet die Regierung mit Hochtouren. Innerhalb der letzten Woche wurden über 500 Personen in Untersuchungshaft genommen, ohne konkrete Beweise, versteht sich. Darunter befand sich auch die Vizevorsitzende der links-kurdischen HDP Aysel Tugluk.

Am Dienstag, den 27.12.16, wurden erneut 45 Haftbefehle gegen Offiziere und Soldaten der Kriegsmarine erlassen. In Untersuchungshaft genommen wurde auch Senol Buran, der Kantinenbetreiber der liberalen Zeitung Cumhuriyet, weil er im Internet erklärt hatte, Erdogan keinen Tee servieren zu wollen.

In Sultanbeyli wurde das HDP-Büro von der Polizei verwüstet und mit homophoben Parolen wie z.B. "Wir sind wieder gekommen, ihr Kleider tragende Genossen" beschmiert. Auch die 3 Halbmonde als Zeichen der Grauen Wölfe hinterließen sie.

In Siirt, einer Stadt im Südosten der Türkei wurde der Co-Bürgermeister Tuncer Bakırhan entlassen und durch einen Treuhänder ersetzt. Dieser hat als eine seiner ersten Amtshandlungen das "Berfin Women's Counseling Center" geschlossen. In der Frauenwerkstatt wurden handgefertigte Produkte aus Abfallprodukten wie Pappe und CDs produziert. Durch den Erlös dieser Produkte konnten sich die Frauen ihren Lebensunterhalt verdienen. Ebenfalls im Südosten wurden im Rahmen des Verbots von 83 Vereinen auch 5 Sportclubs geschlossen.

Neun Journalisten wurden verhaftet, weil sie aus veröffentlichten Materialien der Hackergruppe Red Hack berichtet hatten. Zehntausende User sozialer Netzwerke wurden in den letzten Monaten überprüft.

Haftbefehl wurde gegen den in Untersuchungshaft befindlichen renommierten Journalisten und Buchautor Ahmed Sik, einem ausgesprochenen Gülen-Kritiker, erlassen. Es klingt verrückt, aber ihm wird neben PKK-Propaganda, Propaganda für die stalinistische DHKP-C, auch die Unterstützung der Gülen-Bewegung und des IS vorgeworfen.

Der Retter und die Verschwörung

Auch das Attentat auf den Istanbuler Nachtclub Reina in der Silvesternacht kann Erdogan nutzen nach dem Motto: "Schaut her, die Welt verschwört sich gegen uns, unterstellt uns einen Pakt mit dem Bösen, aber nur wir, das türkische Volk, kämpft wirklich gegen das Böse, gegen die 'Terroristen'. Mit unserem starken Reis Erdogan werden wir alles Böse besiegen, so Allah es will."

Beim Regierungsblatt Yeni Safak hört sich das Bedrohungsszenario so an (frei übersetzt und zusammengefasst): Die USA, Deutschland, ganz Europa unterstützen den Terrorismus gegen die Türkei. Zusammen mit der PKK verwandeln sie Nordsyrien in eine Garnison gegen die Türkei. Jede Woche würden U.S. und deutsche Waffen an die kurdische Arbeiterpartei (PKK) in bestimmten Gebieten Syriens, über Hubschrauber und Flugzeuge geliefert.

Liest man den Yeni Safak-Artikel weiter, so bekommt man den Eindruck, die Zerstörung von kurdischen Städten wie Silopi oder Cizre (mit der Verbrennung von über hundert junger Menschen am lebendigen Leibe in den Kellern von Cizre) durch die türkischen Militärs sei reine Notwehr gewesen, denn es war ja ein Plan der USA, die Türkei aufzuteilen, wie sie auch Syrien aufteilen wollten.

Nun ist İbrahim Karagül von Yeni Safak ein besonders scharfer Einpeitscher, aber in das gleiche Horn blasen alle anderen Medien in der Türkei. Mangels kritischer Gegenpresse wird die Bevölkerung von allen Seiten von früh bis spät mit solchen und ähnlichen Nachrichten gefüttert.

Die breite Masse glaubt das, denn es steht ja nicht nur in der Zeitung hier, sonder auch in dieser und jener und es kam auch im Fernsehen, im Frühstücksfernsehen, in der Abendshow, in den Nachrichten - das kann dann nicht falsch sein. Wer zweifelt, ist möglicherweise selbst ein PKK-Terrorist oder FETÖ. So sieht heute es heute in vielen Köpfen in der Türkei aus.

Der Spalter und die Islamisten

Die Bundesregierung sollte alarmiert sein: Erdogan wird immer mehr als Übervater aufgebaut, der nur durch sein eigens auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem dem Land Frieden zu bringen vermag. Der Flüchtlingsdeal ist passé. Erdogan will noch Kasse sehen, dann macht er die Grenze auf - es mehren sich nämlich zunehmend Stimmen in seinen Reihen und bei der MHP, er hätte zu viele Araber ins Land gelassen, die beginnen würden, bestimmte Strukturen zu übernehmen.

Erdogan hat die Büchse der Pandorra geöffnet. Mit seinem Islamisierungskurs hat er die türkische Bevölkerung gespalten. Längst haben sich die Islamisten in der Türkei selbstständig gemacht und machen Jagd auf den säkularen Teil der Bevölkerung. Es vergeht kein Tag in der Türkei, wo nicht ein Bürger aufgrund seines "verdächtigen" Aussehens krankenhausreif geprügelt wird.

Der bekannte Modedesigner und LGBTI-Aktivist Barbaros Şansal wurde am Montag wegen eines sarkastischen Videoposts in der Silvesternacht in Nord-Zypern auf dem Rollfeld des Istanbuler Flughafens fast gelyncht - von einer aufgebrachten Menge, darunter auch Bodenpersonal des Flughafens. Kurz zuvor hatte die Zeitung Anadolu die genaue Ankunftszeit des Flugzeugs bekannt gegeben.

Der Bürgermeister von Ankara postete ein Foto des blutenden Designers mit den Worten: "Das türkische Volk ist ein ehrenhaftes Volk. Rohe Gewalt ist zwar nicht zu billigen, aber man darf die Menschen auch nicht provozieren."

Es scheint, dass die Radikalisierung des konservativ-islamisch bis nationalistischen Teils der Bevölkerung nicht mehr aufzuhalten ist. Es wird immer fraglicher, ob der Alleinherrscher noch die volle Kontrolle über diese Entwicklungen hat. Nun, erst einmal hat er den Ausnahmezustand erwartungsgemäß ein weiteres Mal bis April verlängert. So wird er das Land vom Ausnahmezustand nahtlos in seine "Präsidialdiktatur" überführen.