Augmented Reality: Das nächste große Ding

Pokémon Go ist nur der Anfang von Augmented Reality: Eine neue Generation von Smartphones soll ihre Umgebung so genau erkennen, dass die Verschmelzung von digitaler und realer Welt wirklich glaubhaft wird.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Elizabeth Woyke

Stellen Sie sich vor, Sie wollen ein neues Sofa kaufen, und eine App des Kaufhauses zeigt Ihnen, was an den vorgesehenen Platz passen würde, und fügt das Möbelstück gleich als virtuelle Vorschau in 3D in Ihr Wohnzimmer ein. Oder Sie wollen ein Bild ausmessen, um es rahmen zu lassen. Mit Tracking- und 3D-Daten könnte Ihr Smartphone die Maße berechnen, Lineal oder Zollstock können in der Schublade bleiben. Oder Sie spielen Pokémon Go und könnten sich den Comicfiguren nähern oder sie umzingeln.

Sie würden wie Teile der Umgebung erscheinen. Pokémon Go hat gezeigt, wie viel Potenzial Augmented Reality (AR) mittlerweile hat und welche Faszination von ihr ausgeht – aber ebenso, wo die Verschmelzung von digitaler und realer Welt noch an ihre Grenzen kommt. Die Figuren schwebten leicht körperlos in der Luft, Spieler konnten sie nur aus größerem Abstand von vorn ansehen.

Google-Entwickler Johnny Lee arbeitet daran, diese Grenzen einzureißen. Ihn ärgert seit Langem die begrenzte räumliche Wahrnehmung von Smartphones – auch wenn schlechte AR-Spiele nicht der Auslöser dafür waren. Ihn störte, dass die mobilen Computer zwar erkennen, wenn ihr Nutzer zum Flughafen aufbricht, ihm per Sprachausgabe den Weg dorthin ansagen und ihn sogar um Staus herumleiten können. Doch wenn er angekommen ist und wissen will, wo sich der Abflugschalter befindet, ist er auf sich allein gestellt. Denn dazu müsste das Telefon seine Position sehr genau kennen, und zwar ohne GPS-Unterstützung – denn mitten im Flughafengebäude ist kein Empfang der Satellitensignale möglich.

Seit vier Jahren arbeitet Lee an einer Lösung. Das Ergebnis ist Tango, ein Standorterkennungsdienst, mit dem Mobiltelefone bald sehr viel nützlicher werden sollen – insbesondere in Innenräumen. Das System nutzt Sensoren, maschinelles Sehen und Bildverarbeitung, um den Geräten deutlich bessere Informationen über Raum und Bewegung zu verschaffen.

Es basiert auf drei Kerntechnologien: Raumerkundung, Tiefenerkennung und Bewegungsverfolgung. Zusammen versetzen sie Smartphones in die Lage, ihr Umfeld zu erkennen, diese Daten zu speichern und Karten davon zu erstellen. Außerdem können die Geräte erfassen, wie weit sie von Boden, Wänden oder Objekten entfernt sind, und unterwegs ihre Position im dreidimensionalen Raum herausfinden. Die Genauigkeit liegt bei wenigen Zentimetern, und zwar ohne externe Signale wie GPS, WLAN oder Bluetooth.

Weil Geräte mit Tango ihre Position aber derart präzise feststellen können, ist das System viel mehr als nur eine Art GPS für Innenräume. Es ermöglicht auch völlig neue Interaktionen von Smartphones mit ihrer Umgebung. Blair MacIntyre etwa, Leiter des Augmented Environments Lab am Georgia Institute of Technology, prognostiziert ganz neue Arten von Anwendungen im Bereich Augmented Reality. "Wenn man die Welt mit einem Smartphone scannen kann, eröffnen sich verschiedenste Möglichkeiten, unter anderem Apps, die Dinge beherrschen, die wir Forscher bislang nur im Labor demonstriert haben, und zwar mit sehr teurer Technik."

Nun will Lenovo in diesem Winter das erste Tango-Smartphone für Verbraucher auf den Markt bringen; das Phab 2 Pro auf Android-Basis soll 499 Dollar kosten. Für klassische Smartphones existieren zwar seit Jahren Apps für Augmented Reality. Sie können aber längst nicht so viel. Die neue Technik dagegen legt nicht einfach nur Bilder über die Umgebung, sondern versteht sie. GuidiGo, ein französisch-amerikanisches Start-up, das Mobiltelefon-Führungen für kulturelle und historische Stätten entwickelt, hat Tango bereits getestet.

Die Apps leiten Besucher zu bestimmten Exponaten, indem sie den Weg dorthin mit virtuellen blauen Punkten auf dem Boden markieren. Wer vor dem Kunstwerk steht, sieht einen virtuellen Knopf, der in der Luft zu schweben scheint. Wenn man ihn berührt, bekommt man Bilder zu sehen, die wie Spezialeffekte in einem Film wirken. In einer Ausstellung über das alte Ägypten könnte das zum Beispiel ein Röntgenblick in den Sarg einer Mumie sein.

Noch sind Angebote wie dieses allerdings selten. Laut Jeff Meredith, Leiter des Geschäftsbereichs Android bei Lenovo, werden im Play Store von Google nur etwa 50 "sehr gute" Tango-Apps zur Verfügung stehen, wenn der Verkauf des Phab 2 Pro beginnt. Denn ohne spezielle Hardware funktioniert Tango nicht. Das System benötigt unter anderem einen Tiefensensor, der mithilfe von Infrarotstrahlen die Entfernung zu Punkten im Raum ermittelt, und eine Fischaugen-Kamera für Weitwinkelansichten und Bewegungsverfolgung. Diese Komponenten machen die Geräte voluminöser, schwerer und teurer. Das Phab 2 Pro ist größer und wiegt mehr als das größte Apple-Smartphone.

Außerdem erhöht die zusätzliche Ausstattung den Stromverbrauch und erzeugt Wärme, die abgeführt werden muss. Für GPS reichen dagegen ein winziger Chip und eine Antenne. Andererseits war auch die GPS-Technik früher größer und ist mit den Jahren geschrumpft, weil die massenhafte Verbreitung den technischen Fortschritt vorangetrieben hat.

Google-Entwickler Lee hofft, dass Tango den gleichen Weg gehen wird. Vor Kurzem hat sein Team mit dem Chiphersteller Qualcomm daran gearbeitet, dass dessen beliebte Snapdragon-Prozessoren Kameras, Sensoren und Algorithmen für Tango unterstützen. Wenn Mobiltelefon-Hersteller Prozessoren bekommen, die mehrere Tango-Funktionen in einem einzigen Chip vereinen, verringert das den Stromverbrauch und sorgt dafür, dass die Technologie leichter einzusetzen ist.

Sollte die Technik auch in anderen Geräten Verwendung finden – von Robotern bis zu Wearables –, steht eine umfassende Vermessung der Welt an. All diese Gerätschaften könnten Daten über die von ihnen kartierten Gebiete austauschen. Roboter wären dann zum Beispiel in der Lage, durch Räume zu navigieren, ohne gegen Möbel zu stoßen. Lee schwebt eine Zukunft vor, in der man einem Tango-Roboter einfach "Geh zur Tür" sagen kann, und dieser sofort weiß, wohin er sich begeben soll. (bsc)