Vom Anteil des Wolfes an der Menschwerdung des Affen

Foto: Bernard Landgraf / CC BY-SA 3.0

Nicht die Wölfe sind den Menschen gefolgt, sondern die Menschen den Wölfen und haben von diesen gelernt

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Es gibt eine sehr praktische Legende, die wir uns zurechtgelegt haben, um zu erklären, wie wir zu unserem ersten Nutz- und späteren Haustier gekommen sind. Wie der Mensch auf den Hund kam heißt ein berühmtes Buch des Verhaltensforschers Konrad Lorenz. Darin beschreibt er, wie Schakale in einer afrikanischen Steppe den jagenden Menschen folgen und ihnen irgendwann auch einmal den Weg zu einem angeschossenen Wild zeigen. Dafür werden sie mit einem Anteil der Beute belohnt, und so entwickelt sich langsam ein innigeres Verhältnis der tierischen und menschlichen Jäger.

Wir wissen heute aufgrund genetischer Untersuchungen, dass alle unsere Hunde ausschließlich vom Wolf abstammen. Und zwar vom großen grauen Wolf Eurasiens. Also muss nun eine andere Erzählung her, um die sich die Nachfolger Konrad Lorenz' auch bemüht haben. Es ist viel gerätselt worden, warum sich der Wolf, das damals erfolgreichste Raubtier, dem Menschen angeschlossen haben soll. Warum soll er die soziale Bindung des Rudels verlassen haben, um sich einem herrischen Großen Menschenaffen anzuschließen, der weder stärker noch der bessere Jäger war? Die meisten Erklärungsversuche solch unerklärlichen Verhaltens scheitern daran, dass sie noch immer die alte Perspektive einnehmen.

Was aber, wenn alles ganz anders war - und nicht die Wölfe den Menschen gefolgt sind, sondern die Menschen den Wölfen? Ja, richtig gelesen: Die Menschen folgten den Wölfen! Und sie lernten dabei von ihnen. Es spricht vieles dafür, dass das Lorenzsche Szenario nur unserem Wunschdenken entspricht, weil wir uns gerne als die Krone der Schöpfung sehen und als solche natürlich alles aus uns selbst heraus entwickelt haben müssen. Ein solches Selbstbild lässt natürlich nur zu, dass der Wolf dem überlegenen Menschen folgte und damit in die Domestikationsfalle tappte.

Es bricht uns aber kein Stein aus der Schöpfungskrone, wenn wir mal annehmen, dass schon unsere Vorfahren und deren Verwandte lernfähig waren. Und also auch lernten, was andere besser konnten - nämlich die Wölfe das koordinierte Jagen und Zusammenleben in großen Gruppen. Versuchen wir mal dieses Szenario.

Von der Anhöhe aus sehen die Rentiere in der weiten Senke nicht wie eine zusammengehörende Herde aus. Sie stehen und liegen in Gruppen von zehn, zwanzig Tieren beisammen. Manche haben die Köpfe in die blühenden Kräuter gesenkt, manche liegen im Windschatten der niedrigen Büsche, gemächlich wiederkäuend. Nur wenige der Hirsche haben die Köpfe erhoben und die Nüstern im Wind. Riechen werden sie aber weder die kleine Gruppe Menschen, die sich auf der Anhöhe hinter das Gestrüpp kauert, noch das Rudel Wölfe, das gerade um den Hügel herumläuft. Beide haben sich auf der dem Wind abgewandten Seite der Senke genähert.

Das Buch "Tödliche Freundschaft. Was wir den Tieren schuldig sind und warum wir ohne sie nicht leben können" von Florian Schwinn ist gerade im Westend Verlag erschienen. Dieser Text ist ein Auszug daraus.

Weit auseinandergezogen schnüren die Wölfe jetzt in gemächlichem Trab auf die Rentiere zu. Als der erste Wolf ins Blickfeld der Hirsche kommt, hält er kurz inne und schaut - nicht zu der Renherde, sondern den Hügel hinauf zu den Menschen. Die Jäger wissen voneinander. Dann setzt der Wolf seinen Weg fort, nach links, am Rand der Senke entlang in einem weiten Bogen um die Rentiere herum. Einer der Hirsche hat beim Erscheinen des Wolfes geschnaubt, viele haben daraufhin die Köpfe gehoben. Jetzt verfolgen viele Hirschaugen den Weg des Wolfes. Die Rentiere, die ihm am nächsten sind, setzen sich langsam in Bewegung - in Richtung des Zentrums der Senke und der noch immer weit verstreuten Herde. Kurz nach dem ersten Wolf erscheint hinter dem Hügel ein zweiter und in regelmäßigem Abstand ein dritter und vierter. Alle bleiben sie auf der Spur des ersten. Die Rentiere sind nicht beunruhigt.

Nun kommt die Leitwölfin des Rudels um den Hügel herum, stoppt kurz, überblickt die Szenerie - und wendet sich nach rechts. Sie trabt unter der Anhöhe entlang, nicht ohne einen Blick zu der Menschengruppe hinaufzuwerfen: Ich weiß, dass ihr da seid. Einen Augenblick später folgt ein nächster Wolf, dann ein dritter und vierter. Sie umgehen die Rentiere ebenfalls in weitem Bogen. Die Hirsche bewegen sich von den Rändern in die Mitte der Senke und werden nun als kompaktere Herde kenntlich.

Dann endlich ziehen die Wölfe ihren Ring um die Herde enger, und plötzlich drehen sie sich zu den Rentieren hin und kommen auf sie zu. Die äußeren Rentiere laufen um die Herde herum, die beginnt zu kreisen, dann setzt sich das Ganze in Bewegung - auf den Hügel zu, hinter dem jetzt der Rest des Wolfsrudels auftaucht. Die Jagd ist eröffnet.

Die Rentiere werden schneller. Eine Staubwolke steht über der Tundra. Eine trächtige Hirschkuh, die auf einem Hinterlauf lahmt, kann das Tempo nicht halten. Sie bricht aus der Herde aus und stellt sich dem sie direkt verfolgenden Wolf, dreht sich um die eigene Achse und senkt das Geweih. Der Wolf nimmt den Kampf nicht an, weicht dem Geweih aus, springt vorüber. Die Hirschkuh hat dennoch einen tödlichen Fehler gemacht: Sie hat die Menschen mit den langen Speeren übersehen, die hinter ihrem Rücken den Hügel herunterspringen und schon in Wurfweite sind. Das Rentier sieht zum ersten Mal in seinem Leben einen Speer durch die Luft sirren. Dieser seltsame Stock ist das letzte, was es hört und sieht.

Auch die Wölfe sind erfolgreich an diesem Tag. Einen Kilometer weiter bricht ein weiteres Tier aus der Herde aus. Ein alter Hirsch kommt nicht mehr mit und empfängt die Wölfe mit dem Geweih. Dieses Mal weichen sie nicht aus. Drei Wölfe knurren den Hirsch von vorne an und versuchen, den heftigen Stößen seines Geweihs aus dem Weg zu gehen, zwei weitere kommen von der Seite und reißen ihn schließlich zu Boden.

Auch so könnte es gewesen sein. Nicht die Wölfe folgten den Menschen, um etwas von ihnen abzubekommen, sondern die Menschen folgten den Wölfen und profitierten von deren Art zu jagen. Und das alles nicht in Vorderasien oder Afrika, sondern in der Tundra Eurasiens - viele Jahrtausende vor der bislang vermuteten Zeit der "Domestikation" des Hundes.

Nach genetischen Berechnungen können die Hunde nicht im Zusammenleben mit dem modernen Menschen entstanden sein

Tatsächlich haben sich die Mütter und Väter unserer heutigen Haushunde viel früher von den Wölfen getrennt als lange angenommen. Und womöglich noch viel früher, als von den meisten Wissenschaftlern inzwischen akzeptiert wird. Eine genetische Berechnung aus der Sequenzierung der DNA verschiedener heutiger Hunde aus den verschiedensten Weltgegenden - veröffentlicht im Jahr 1997 - ergab einen atemberaubenden Zeitraum: Danach haben sich die Haushunde vor rund 135.000 Jahren genetisch von den Wölfen getrennt. In einer etwas späteren Studie verglichen Genetiker die DNA von Hunden, Wölfen und Schakalen und kamen zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch danach müsste die Trennung der Vorfahren unserer Haushunde von den Wölfen vor über 100.000 Jahren stattgefunden haben.

Nach diesen Berechnungen können die Hunde aber auch nicht im Zusammenleben mit dem modernen Menschen entstanden sein, denn den modernen Menschen, Homo sapiens, gab es damals noch nicht in Eurasien. Dann wären die Menschen, die jene Jagdgemeinschaft mit den Wölfen gebildet hatten und die dabei mitwirkten, dass sich die Vorfahren unserer heutigen Haushunde vom Wolf trennten, nicht unsere Vorfahren gewesen. Denn in den Tundren Eurasiens lebten damals viele Jahrtausende lang nur Menschen einer Art, die es heute nicht mehr gibt: die Neandertaler, Homo neanderthalensis.