Der NSU und die V-Leute des Verfassungsschutzes

Zwei Seiten derselben Medaille? - Teil 9 der Telepolis-Serie zum "NSU"

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Dem Studium der Stasi verdanken wir wesentliche Erkenntnisse über den Verfassungsschutz. Der Geheimdienst der untergegangenen DDR, die Staatssicherheit, kurz: Stasi, bildet die Vorlage zum Verständnis auch des Inlandsgeheimdienstes der Bundesrepublik. Die Stasi-Akten stellen die Blaupause dar. Unabhängig von ihrer Verfasstheit und ihren unterschiedlichen Legitimationsgrundlagen sind Geheimdienste vergleichbar aufgebaut, arbeiten mit ähnlichen Methoden, funktionieren in ähnlichen Strukturen.

Zum festem inneren Personal kommt angeworbenes äußeres Personal. Mit ihm schöpfen die Dienste einerseits Informationen aus beobachteten Gruppierungen ab und versuchen zugleich, auf diese Einfluss zu nehmen. Das geschieht schon allein dadurch, dass sich ihre Agenten in diesen Gruppen irgendwie verhalten müssen. Dass sie sich auch als Provokateure verhalten, ist eine der Optionen.

Selbstschutz und Eigenkontrolle sind oberstes Prinzip aller Dienste. Die Einhaltung der Konspiration durch die Informanten wird ständig überprüft. Dass V-Leute ihrerseits konspirativ gegen ihre Dienstherren zusammenarbeiten, ist theoretisch denkbar, aber eher ein kurzlebiges und begrenztes Unterfangen. Dafür haben die Dienste innere Kontrollmechanismen. Im Zweifel trennt sich ein Dienst von einem Spitzel. Er will und braucht die 100-prozentige Kontrolle über sein Handeln, um zu verhindern, dass es fremden Diensten gelingt, die Kontrollmechanismen auszuschalten und Doppelagenten zu gewinnen oder einzuschleusen.

Die Veröffentlichung und Vergesellschaftung der Stasi-Unterlagen hat in Deutschland die Aufklärung der Geheimdienste in einem Quantensprung vorangebracht. Die Stasi-Akten sind ein Schlüssel zur Unterwelt dieser Institutionen. So weiß man, dass die DDR-Staatssicherheit ohne ihre Inoffiziellen Mitarbeiter (IMs), die Spitzel eben, blind wie ein Maulwurf gewesen wäre. Sie hätte ihren politischen Auftrag nicht erfüllen können. Der hieß unter anderem: Sicherung der Macht der SED durch Zersetzung von Widerstand.

Wie die Stasi so der Verfassungsschutz. Bei ihm heißen die IMs "V-Leute", ohne die auch der bundesdeutsche Inlandsgeheimdienst handlungsunfähig wäre. Doch welchen politischen Auftrag hat er eigentlich? Dass er die Verfassung und die demokratischen Grundlagen der BRD schütze, erscheint im Lichte des NSU-Skandals als billige wie makabre Propaganda. Hat er weniger "zersetzt" als "aufgebaut"?

Soweit eine notwendige Vorbetrachtung - denn: Die NSU-Geschichte ist auch eine Verfassungsschutz-Geschichte.

Die NSU-Geschichte ist auch eine Verfassungsschutz-Geschichte

Am 26. Januar 1998 begann mit der Flucht von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe von Jena nach Chemnitz die offiziell erzählte Geschichte des NSU-Trios. Die inoffizielle, die Geheimdienstgeschichte, lief da bereits seit Jahren. 1992 beispielsweise rekrutierte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den ostdeutschen Rechtsextremisten Ralf Marschner als V-Mann, der im NSU-Komplex eine zentrale Rolle spielt. Marschners Patronage ist ganz oben angesiedelt, in der Bundesregierung. 1994 wurden mindestens fünf weitere V-Leute geworben, die sich später in der rechtsextremen Szene um den NSU herum bewegen sollten: Tino Brandt, Thomas Richter, Michael See, Achim Schmid und Carsten Szczepanski.

Im selben Jahr wurde der Westimport Helmut Roewer Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) in Thüringen. Unter seiner Führung starteten mehrere Nachrichtendienste gemeinsame Anwerbe-Aktionen. Die erste begann 1997 unter dem Namen Operation "Rennsteig", an der neben dem Thüringer Landesamt (TLfV), das Bayrische Landesamt (BLfV), das BfV und der Militärische Abschirmdienst (MAD) beteiligt waren. Auf der "Rennsteig"-Liste sollen über 70 Namen von Neonazis gestanden haben, die auf eine Zusammenarbeit angesprochen werden sollten. Unter anderem Marcel Degner aus Gera, André Kapke, Ralf Wohlleben, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Holger Gerlach (alle aus Jena).

Das Prozedere sah unter anderem vor, die Kandidaten während ihres Bundeswehrdienstes auf eine Kooperation anzusprechen. Das sollte der Nachrichtendienst der Armee, der MAD, tun. Im Zwangssystem Militär, so das mutmaßliche Kalkül, würde den Angesprochenen ein "Nein" schwerer fallen bzw. schwerer gemacht. Nach ihrem Wehrdienst sollten die rekrutierten Rekruten vom jeweiligen Landesamt übernommen werden. Deshalb spielte es überhaupt keine Rolle, wenn eine ausgewählte Person erst kurz vor ihrer Entlassung kontaktiert wurde, wie es zum Beispiel bei Uwe Mundlos war. Eine Woche vor seinem Ausscheiden sprach ihn der MAD auf eine Kooperation an. Mundlos soll damals abgelehnt haben.