Die neuen Dolchstoßlegenden

Davos aus der Luft. Foto: Flyout / CC BY-SA 3.0

Kommentar: Wie sich autoritäre Eliten über den Kampf gegen "die Eliten" konstituieren (lassen)

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Adorno meinte, er fürchte nicht die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern in der der Demokraten. Vor den derzeitigen Kämpfern gegen die Eliten kann man sich mindestens genauso fürchten.

"Die Eliten sind schuld!" - wo man hinhört, hört man diesen Schlachtruf. An was sind sie schuld? Eigentlich an allem, aber ganz gewiss am "Populismus". Da man davon ausgehen kann, dass mit den "Eliten" nicht Elitesportler oder Elitelandwirte gemeint sind - wer gehört denn eigentlich genau zu diesen "Eliten"? Da wird’s schnell zappenduster: "Die das Sagen haben", "die Politiker" (nämlich alle), "die Presse" (aber nur die, die lügt) - genaueres bekommt man selten zu hören.

Manchmal ist noch die Rede von den "liberalen Eliten" (hochrangige FDPler vielleicht?) oder gar den "linken Eliten", als sei Kuba nicht eine kleine Insel mit wirtschaftlichen Problemen in der Karibik, sondern geradezu das Modell für eine neue Ordnung, die sich, man weiß nicht wie, mit rasender Geschwindigkeit über den ganzen Globus verbreitet hat.

"Die da oben"

Durchschnittsbürger - also solche mit einem weitgehend durchschnittlichen Einkommen und weitgehend durchschnittlichen Lebensumständen - benutzen den Begriff "Elite" gerne als Synonym für "die da oben", und so schwammig die Fremdzuschreibung ist, so klar ist die Selbstverortung. Die da oben gehören nicht zum hart arbeitenden, anständigen Volk, das sich im Schweiße seines Angesichts redlich müht.

Sie sind korrupt, aber bestens vernetzt. Sie bedrohen uns, sie wollen uns alles wegnehmen. Möglicherweise haben sie sich sogar mit ausländischen Mächten verschworen, um uns Männer und Frauen aus dem einfachen Volk zu hintergehen. Außerdem gibt es natürlich auch verlogene Journalisten, Wissenschaftler und andere Eierköpfe, die mit ihren komplizierten Lügen "die da oben" da oben halten.

Dämonisierung, Frustration, Antiintellektualismus, eine grotesk verzerrte Selbstwahrnehmung, Ressentiments, und große Rührung über die Härten des eigenen Daseins vermischen sich hier zu einem Hetzbrei gegen "die da oben".

Dumm nur, dass die in der gemeinten Art weder als gesellschaftliche Klasse, noch als politische Partei, noch als festgefügte Verschwörung überhaupt existieren. Und die Wutbürgervereine bestehen nicht aus Lumpenproletariern, sondern aus mittelklassigen und kleinbürgerlichen Ariern, selbst wenn man sie von ihrer beruflichen Tätigkeit her als Arbeiter bezeichnen müsste.

"Man hätte das Volk nur besser verstehen müssen"

Dass sich ihr Gerede von dem der expliziten Nazis kaum unterscheidet, die bei ihnen begeistert mitmarschieren, adelt nicht die Gesinnung der Nazis, sondern klärt über den ideologischen Kern der Wutbürgertiraden auf. Auch an diesem Schulterschluss der schäumenden Funktionsjackenträger mit den Reichskriegsflaggenschwenkern sind wahrscheinlich die besagten Eliten schuld; es kann ja der kleine deutsche Mann nicht anders, als den inneren Faschisten von der Kette zu lassen, wenn so böse Eliten, Flüchtlinge, Schwule und all die anderen seine kleine, enge Welt derart belagern.

Die politischen und geistigen Anführer dieser Bagage bilden mittlerweile eigene Eliten, ob sie nun Abgeordnetendiäten verzehren, sich an den schönen Verkäufen ihrer verschwörungstheoretischen Traktate freuen oder die Spenden ihrer Anhänger auf Urlaubsinseln durchbringen. Diese Anhänger halten sie mit der in Deutschland immer wieder beliebten Theorie bei Laune, dass die Juden ihr Unglück seien: Rothschild, die Ostküste, "gewisse Kreise", gegen die "man ja nichts mehr sagen darf". Eliten dieser Art halt. Die Anhänger, die es ja schon immer geahnt haben, spenden, wählen, kaufen.

Da trifft es sich doch wunderbar, dass auch altbekannte Mitglieder der Elite gern über Eliten reden. Gut bezahlte Edelfedern von den namhaftesten Pressehäusern der Republik attestieren den bösen Eliten, dass sie das Volk auf die Straßen und in die Kommentarspalten bei Facebook getrieben haben. Man hätte das Volk nur besser verstehen müssen, sagen sie, und sie versprechen, in Zukunft genau das zu tun, wenn es der Auflage nützt.

Wollen sie wirklich kulturell werden, dann führen sie Didier Eribon an, der ihre Dolchstoßlegenden und ihr kaltes Kalkül mit einem unschlagbaren Gütesiegel versieht: Wenn es schon ein schwuler, linker Franzose sagt, dann dürfen wir das auch. Halleluja! Das absurde Verkleidespiel geht so weit, dass ein milliardenschwerer Immobilienmogul mithilfe einer Kampagne gegen das "verrottete Establishment", gegen den "Sumpf" zum Präsidenten der USA aufsteigt. Nicht nur seine von allen guten Geistern verlassenen Wähler beklatschen ihn für diesen Move, sondern auch Merkbefreite in Deutschland.

Was der Immobilienmogul mit der Auskunft belohnt, es sei ja ohnehin alles nur Spaß gewesen; zur Bekräftigung füllt der sumpfigste Sumpfbereiniger seit langem seine Regierungsbank mit Figuren, denen die Korruption ins Gesicht geschrieben steht. Natürlich führen die erwähnten deutschen Edelfedern auch diesen Karneval des Blödsinns auf die Arroganz der Eliten zurück, natürlich haben sich auch bei dieser Installation des ungefilterten Bösen die berechtigten Sorgen und Ängste des einfachen Volkes Bahn gebrochen.

Gesetzt den Fall, es gäbe eine kritische Öffentlichkeit in Deutschland

Gesetzt den Fall, es gäbe eine kritische Öffentlichkeit in Deutschland. Was wäre in dieser Situation ihre Aufgabe? Einmal ginge es natürlich darum konkret aufzuzeigen, wo und zu welchem Zweck Macht ausgeübt und missbraucht, Herrschaft installiert und verewigt wird. Guter, alter investigativer Journalismus eben, der belegen kann, was er behauptet.

Was alte, neue, absteigende und aufstrebende Eliten angeht, hätte da der Journalismus alle Hände voll zu tun. Darüber hinaus wäre ein Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen notwendig, die Macht, Herrschaft und ihren Missbrauch fördern - kritische Gesellschaftstheorie, auch nichts absolut Brandneues.

Aber Kritik war ja überhaupt noch nie so wertvoll wie heute. Die jüngste Vergangenheit liefert klare Hinweise darauf, dass nicht jede Veränderung des Status Quo eine zum Besseren ist, dass Disruptionen aus Langeweile, um ihrer selbst willen, "weil halt mal was passieren muss" (aber völlig ohne Plan) gerne Katastrophenform annehmen.

Die Idee, dass irgend jemand anders am Populismus schuld sei als die Populisten und ihre Anhänger, Wähler, Unterstützer, verdient schon lange eine ordentliche Tracht Prügel. Statt bei den Wutwichteln nach irgendwelchen Anzeichen für Verführung, gerechtfertigte Empörung oder für bisher unerkannte, edle Motive zu suchen, könnte man sie auch einfach beim Wort nehmen.

Sie wählen und unterstützen Populisten, weil ihnen die genau das versprechen, was sie wollen: möglichst viele Gelegenheiten, um nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Die Sorgen und Ängste des autoritären Charakters sind die gleichen wie eh und je: Er bebt vor Furcht, man könne ihm seine Opfer, sein Vorgärtchen und seine Anführer wegnehmen. Die aktuellen Erscheinungsformen dieser Furcht würden jede Menge Analysestoff für eine kritische Öffentlichkeit abgeben.

Aber eine kritische Öffentlichkeit, das ist und bleibt in Deutschland etwas Einfaches, das schwer zu machen ist.