"Spirale der Negativität": Jeder kann zum Online-Wutbürger und -Troll werden

Bild: Jajalol penelope 8==========0/CC BY-SA-4.0

Trollende Wutbürger scheinen sich zu vermehren, nach einer Studie ist Trollen ansteckend und hängt vom Diskussionskontext, aber auch von der Stimmung ab

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Ziemlich einig scheint man sich zu sein, dass der Ton in Foren und Sozialen Netzwerken schärfer und hässlicher geworden ist, dass die Stimmung siedet und vermehrt Wutbürger aller Couleur unterwegs zu sein scheinen. Höfliches Verhalten, so regelhaft und rituell es auch immer sein mag, schließlich leitet sich das Wort vom Höfischen ab, impliziert eine Achtung des anderen. Aber wenn selbst der US-Präsident nun vorlebt, wie er im Stil des vorgeblich Authentischen andere demütigt und Hass verbreitet, sind womöglich bis zu einer Renaissance freundlicherer Umgangsformen die Zeiten auf Trolle und Trollen ausgerichtet.

Gerade gibt es eine neue Studie, die herauszufinden suchte, warum Menschen zu Trollen werden, die "konstruktive Diskussionen" aufsprengen und verhindern. Die Wissenschaftler der Stanford und Cornell University sagen, es handele sich keineswegs, wie vielfach behauptet, um eine relativ kleine soziopathische Minderheit, die das Ruder übernimmt. Letztlich läuft das Ergebnis ihrer Studie darauf hinaus, dass Trollen in einer "Spirale der Negativität" ansteckt, vor allem dann, wenn man in entsprechender Stimmung ist und gerade schlechte Erfahrungen gemacht oder unter Stress steht. Auch wer ansonsten kein Wutbürger ist, wird leichter ausfallend, wenn es andere vormachen. Der Druck zur sozialen Konformität setzt dann das normale Verhalten aus, erleichtert selbstverständlich dadurch, dass man online dennoch Distanz wahrt, wenn auch nur räumliche, und man sich nicht Aug in Aug gegenübersteht.

Interessant ist neben den Ergebnissen der Studie auch, wer sie gefördert hat. Offenbar gibt es eine breite Allianz von Interessierten, die beunruhigt sind und wahrscheinlich gerne wüssten, wie sie etwa mittels Algorithmen die Wutbürger mäßigen und gesittete Umgangsformen verstärken könnten. Geld gab es von Microsoft, Google, der National Science Foundation, Stanford Data Science Initiative, Boeing, Lightspeed, SAP und Volkswagen. Aber auch das Militär würde gerne mehr wissen, so haben auch das Army Research Office und das Pentagon die Studie mitfinanziert. Da könnte man sich ein Interesse vorstellen Tipps zu erhalten, wie sich aufgebrachte Menschenmengen online und offline beruhigen oder andersherum verstärken ließen, wenn dies strategisch opportun ist. Die Wissenschaftler selbst sagen, wie der Informatiker Cristian Danescu-Niculescu-Mizil, sie wollten herausfinden, was antisoziales Verhalten verstärkt, um die "Qualität von Online-Diskussionen zu verbessern". Man denkt dabei an ein "robusteres Soziales Design, das vor einem solchen unerwünschten Verhalten schützt". Es geht also um Verhaltensprogrammierung.

Die Wissenschaftler untersuchten im Wesentlichen zwei Faktoren, die eine Rolle beim Trollen spielen könnten: Stimmung und unmittelbarer Kontext, Gesellschaftliches wird dabei allerdings ausgeblendet bzw. spielt nur indirekt über die Stimmung hinein. Den 667 Versuchsteilnehmern, über Amazon Mechanical Turk (AMT) für einen Stundenlohn von 8 US-Dollar gefunden, wurde in einem ersten Schritt ein Test vorgelegt, der schwer oder einfach zu lösen war. Sie wurden also eingestimmt und mussten dann ihre Stimmung (Ärger, Depression, Spannung etc.) auf einem Fragebogen angeben. Klar hatten diejenigen mit dem schwierigen Test schlechtere Laune.

Im zweiten Schritt wurde den Versuchspersonen ein Artikel vorgelegt und ihnen gesagt, sie sollten sich an der Diskussion im Forum beteiligen. Alle erhielten denselben Text, in dem Frauen aufgefordert wurden, für Hillary Clinton und nicht für Bernie Sanders in den Orimaries zu stimmen, aber die Hälfte fand im Forum an erster Stelle drei Troll-Kommentare, die andere Hälfte neutrale Kommentare. Beispiel für einen Troll-Kommentar: "Oh yes. By all means, vote for a Wall Street sellout - a lying, abuse-enabling, soon-to-be felon as our next President. And do it for your daughter. You're quite the role model." Beispiel für einen neutralen Kommentar: "I'm a woman, and I don't think you should vote for a woman just because she is a woman. Vote for her because you believe she deserves it." Die Kommentare wurden dann von zwei unabhängigen "Experten" nach Richtlinien von Foren als Troll-Kommentare oder nicht eingestuft.

35 Prozent der Versuchspersonen, die den leichten Test lösen mussten und neutral Kommentare sahen, schrieben eigene Troll-Kommentare. Wenn sie entweder den schweren Test lösen mussten oder schon Troll-Kommentare vorgesetzt bekamen, setzten schon 50 Prozent solche ab. Wenn sie sowohl den schweren Test lösen mussten und Troll-Kommentare vorfanden, waren es 68 Prozent. Schlechte Stimmung steckt an.

Troll-Verhalten breitet sich von User zu User aus

Zusätzlich wurde das Forum von CNN.com im Jahr 2012 ausgewertet: über 1,15 Millionen Nutzer, über 200.000 Diskussionen und über 26 Millionen Kommentare, darunter auch diejenigen, die gesperrt wurden. Als Troll-Kommentare galten diejenigen, die von Forumsmitgliedern gemeldet wurden. Da die Stimmung nicht direkt erfasst werden konnte, behalfen sich die Wissenschaftler mit der Zeit, zu der die Kommentare gepostet wurden. Nach anderen Studien soll sich gezeigt haben (was Donald Trump auch bestätigt), dass Troll-Kommentare in der Nacht zunehmen ("glücklich am Tag, traurig in der Nacht") und Anfang der Woche vorherrschen, wenn Menschen angeblich schlechter gestimmt sind. Bei CNN waren jedenfalls deutlich mehr Kommentare in der Nacht von 23 bis 5 Uhr als von 11 bis 17 Uhr und am Montag als am Freitag. Daraus leiten sie ab, dass auch hier die Stimmung eine Rolle spielt.

Bei näherer Untersuchung bestätigte sich auch in den CNN-Foren, dass ein anfänglicher Troll-Kommentar eher weitere nach sich zieht und dass mehr Troll-Kommentare das Posten weiterer begünstigen: "Das Troll-Verhalten breitet sich von User zu User aus", so die Schlussfolgerung, so dass man keinen großen Schritt machen muss, um das Trollen als eine Art Epidemie zu begreifen, die sich auf CNN häufiger in bestimmten Themenbereichen (Gesundheit, Rechtsprechung, Sport, USA, Welt oder Showbusiness) als in anderen (Meinung, Politik, Technik oder Reise) verbreitet.

Trollen, so die Wissenschaftler, hängt zwar auch von den Themen ab, viel stärker schlage jedoch der Kontext durch, also ob ein Forum mit Troll-Kommentaren beginnt. Daraus lasse sich alle schon weiteres Troll-Verhalten ableiten. Und die Stimmung würde auch stärker durchschlagen als das Diskussionsthema. Ist jemand schlecht gelaunt und stößt auf einen Troll-Kommentar, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch bei anderen Usern das Verhalten durchschlägt und die Atmosphäre demgemäß giftig wird. Zudem wird ein User eher trollen, wenn er dies vorher schon gemacht, auch in einem anderen Forum.

Ob sich die angeblich geringe Bedeutung des Themas wirklich verallgemeinern lässt, scheint fraglich, denn es gibt in der Regel "heiße" Themen, die aktuell und kontrovers sind, an denen sich Trolle festsetzen, die schließlich nach Aufmerksamkeit und Aufregung suchen. Aber würde der Hauptthese nicht widersprechen, dass die Negativität sich ausbreitet. Anhand der Kommentare auf CNN.com stellten die Wissenschaftler jedenfalls den beunruhigenden Trend fest, dass die Zahl der markierten Forenbeiträge und der Anteil der User mit markierten Forenbeiträgen angestiegen ist: "Dieser Aufwärtstrend zeigt, dass Troll-Verhalten allgemeiner wird und dass sich eine wachsende Zahl an Usern so verhält … Unsere Ergebnisse weisen zusammen mit früheren Studien darauf hin, dass negative Normen verstärkt werden können und dass schlecht bewertete User andere User schlecht bewerten, so dass negatives Verhalten in einer Gemeinschaft bestehen und diese durchdringen kann, wenn es nicht angegangen wird."

Die Trolle auszuschließen und zu blockieren, helfe aber nicht, da auch normale Leser schlechte Tage haben können und Trollen stark vom Kontext abhängig ist, also jederzeit entstehen kann. Man könne beispielsweise die Stimmung durch die Tastgeschwindigkeit erfassen und das schnelle Posten von Kommentaren hintereinander ausbremsen. Das könnte beruhigend wirken. Eine gewisse Wirksamkeit könne auch haben, wenn Nutzer Kommentare wieder zurückziehen können. Troll-Kommentare für andere unsichtbar zu machen, ohne den Troll zu benachrichtigen, könne auch zivilisierte Umgangsformen befördern. Und dann ließen sich Troll-Kommentare etwa anhand bestimmter Wörter ausfindig machen. Aber eine wirkliche Lösung können die Autoren auch nicht anbieten.

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