"Das Parlament hat eine Chance vertan"

Die Berliner Linken-Politikerin Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages, über Volksentscheide auf Bundesebene

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Wie würden Sie den Zustand unserer Demokratie in einem Satz beschreiben?

Petra Pau: Sie hat Schwindsucht.

Inwiefern?

Petra Pau: Viele Bürger haben den Eindruck, sie seien außen vor. Oft höre ich den Satz: "Wir wollen bei wichtigen Entscheidungen endlich mitbestimmen." Aber eine solche politische Partizipation ist in den derzeitigen Strukturen kaum möglich. Es wäre fahrlässig, wenn wir Politiker derlei Kritik schönredeten oder gar beiseite schöben.

Gehören Sie zu jenen Politikern der Linkspartei, die von einer Post-Demokratie sprechen?

Petra Pau: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Allerdings müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen aus dem Fakt, dass es seit längerem eine Krise der politischen Repräsentation gibt. Die zunehmende Demokratie- und Politikerverdrossenheit ist auf Dauer extrem gefährlich. Wir Linke kämpfen daher bereits seit vielen Jahren für mehr direkte Demokratie auf Bundesebene. Deutschland ist auf diesem Feld ein europäisches Entwicklungsland.

Das Grundgesetz sieht Volksabstimmungen nur bei der Neugliederung des Bundesgebietes und im Fall einer neuen Verfassung vor. Um Plebiszite verfassungsrechtlich abzusichern, plädiert Ihre Partei daher für die Verankerung einer dreistufigen "Volksgesetzgebung" im Grundgesetz.

Petra Pau: In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es, dass das Volk die Staatsgewalt unter anderem "in Wahlen und Abstimmungen" ausübt. Nun ist es an der Zeit, dass die Parteien im Bundestag und Bundesrat Farbe bekennen. Andernfalls schwände das Vertrauen der Bürger in die Institutionen immer weiter. Die Demokratie- und Politikermüdigkeit würde zunehmen.

Aber im vergangenen Sommer wurde der entsprechende Entwurf Ihrer Fraktion im Bundestag - mal wieder - abgelehnt...

Petra Pau: ... Was ich sehr bedauere! Das Parlament hat eine Chance vertan. Ich bin allerdings nicht bereit, auf meine Forderung zu verzichten, gerade auch nach den Erfahrungen mit Volksentscheiden auf Länderebene.

Das Argument der SPD, man halte sich an den Koalitionsvertrag und habe deshalb gegen den Antrag gestimmt, könnte bald entfallen.

Petra Pau: Keine Ahnung.

Anders gefragt: Ohne Rot-Rot-Grün kommen Sie da nicht weiter, oder?

Petra Pau: Wir haben eigentlich seit Jahren parlamentarische Mehrheiten für mehr direkte Demokratie. Die Frage ist, wann die SPD endlich Haltung zeigt. Bisher wurde da viel geredet, aber nur wenig getan - ein Trauerspiel. Wir hatten im Bundestag sogar die Situation, dass SPD, FDP und Grüne programmatisch dafür waren, es allerdings dennoch nicht zu einem entsprechenden Ergebnis kam, und zwar aufgrund unterschiedlicher Konstellationen.

Das heißt, Sie werden nach der Bundestagswahl einen weiteren Vorstoß wagen?

Petra Pau: Wir werden weiter vehement für mehr direkte Demokratie argumentieren, ja. Gehen Sie davon aus, dass die Linke im Parlament Initiative ergreifen wird.

Die AfD ...

Petra Pau:… braucht es dafür nun wirklich nicht! Die Herrschaften sind zwar für Volksabstimmungen auf Bundesebene, deren Stimmen wären aber nicht entscheidend bei einem solchen Prozedere.

Hat das provokante Auftreten der AfD, deren Führungsriege immer wieder Bestehendes infrage stellt, Ihre Sicht auf das Thema "Volksentscheide" zuletzt verändert? Stichworte Asylrecht, Gedenkkultur, Klimawandel - um nur einige zu nennen.

Petra Pau: Ich bin überhaupt nicht bereit, meine Position in irgendeiner Weise zu revidieren, solange man mich nicht vom Gegenteil überzeugt. Nur weil eine neue Partei ständig das Wort Volksabstimmungen im Munde führt, heißt das nicht, wir müssten unseren Kurs ändern. Auch die CSU fordert Volksentscheide, allerdings meist bei Themen, die ihr gerade in den Kram passen. Die Herren Seehofer und Söder handeln hier - wie so oft - populistisch und unseriös.

Direkte Demokratie bringt immer Herausforderungen mit sich

Apropos, sehen Sie nicht die Gefahr, dass direktdemokratische Verfahren auf Bundesebene zu einem Instrument eines antistaatlichen Populismus werden könnten?

Petra Pau: Direkte Demokratie bringt immer Herausforderungen mit sich. Aber Sorgen sind hier fehl am Platz. Ich halte es für dringend nötig, dem mündigen Bürger die Chance zu geben, in grundlegenden Fragen mitzubestimmen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren weise genug, bestimmte Grundsätze von solchen Abstimmungen auszunehmen, indem sie ebenjene unter die Ewigkeitsgarantie gestellt haben (u.a. Menschenwürde, Föderalismus, Gewaltenteilung, Anm. d. Red.).

Finanzstarke und einflussreiche Gruppen könnten die öffentliche Meinungsbildung im Vorfeld solcher Abstimmungen stark beeinflussen - richtig oder falsch?

Petra Pau: Die Finanzierung der Kampagnen müsste selbstverständlich transparent sein. Und auch die Frage, wie genau geworben wird, würde vorab festgelegt. Das ist ebenso wichtig, wie die Tatsache, dass allen Abstimmungsberechtigten rechtzeitig entsprechendes Informationsmaterial zur Verfügung gestellt wird. Insgesamt sehe ich da keinerlei Probleme.

Was antworten Sie denen, die sagen, viele Sachthemen seien viel zu komplex, als dass das gesamte Volk darüber abstimmen könne?

Petra Pau: Mit Verlaub, das ist großer Unsinn. Ich leite regelmäßig mehrstündige Plenardebatten im deutschen Bundestag, an deren Ende stets eine einzige Frage steht: Wer stimmt dafür, wer stimmt dagegen, und wer enthält sich? Auch bei komplexen Gesetzesvorhaben, sei es die Pflegereform oder die Verabschiedung staatlicher Verträge, muss eine Entscheidung her. Und klar ist: Nicht jeder Abgeordnete ist bei jedem Thema ein Experte. Es geht darum, sich im Vorfeld gut zu informieren, abzuwägen und am Ende eine Entscheidung zu treffen. Selbstverständlich traue ich ebendies in Grundsatzfragen auch dem Bürger zu. Leider haben wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwei Chancen vertan, direkte Demokratie in der Bundesrepublik einzuführen.

Welche Zeitpunkte meinen Sie?

Petra Pau: Zum Beispiel den Moment, in dem die staatliche Einheit wiederhergestellt wurde. Damals hätte das Grundgesetz entsprechend bearbeitet werden können, nein: müssen.

Der zweite Moment?

Petra Pau: Als der EU-Verfassungsvertrag verhandelt wurde, stellte der damalige Bundeskanzler (Gerhard Schröder, d. Red.) die Behauptung in den Raum, das Grundgesetz würde ein Referendum darüber verbieten, was bekanntlich falsch ist. Spannend: Zu jener Zeit organisierte ein kleiner Verein in einem Ort in der Eiffel eine symbolische Volksabstimmung über den EU-Verfassungsvertrag. Bürgerinnen und Bürger haben sich politisiert wie selten zuvor. Aber auch Politiker aller Parteien konnten nicht schnell genug vor Ort sein, um zu debattieren. Das war ein klares Zeichen an die Kritiker direkter Demokratie.

Können Sie das etwas genauer erklären?

Petra Pau: Auch wenn mir das Abstimmungsergebnis Pro-EU-Vertrag nicht passte, muss ich sagen: Die Bürger hatten sich zuvor informiert, souverän abgewogen - und am Ende eine Entscheidung getroffen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, all die Befürchtungen der Skeptiker haben sich in Luft aufgelöst. Daher mein Appell: Wir sollten keine Angst vor der eigenen Courage haben, sondern direkt-demokratische Elemente als Herausforderung annehmen.

Frau Pau, sind Sie auch für Volksentscheide, die die Flüchtlingspolitik betreffen?

Petra Pau: Das leider schon fast amputierte Grundrecht auf Asyl ist für mich nicht verhandelbar. Da ergeben Volksabstimmungen keinen Sinn. Leider wird in der Praxis vieles zusammengerührt; die Flüchtlingskonventionen sind völkerrechtliche Verträge, die nicht einer nachträglichen Abstimmung bedürfen, sondern nur konsequent umgesetzt werden müssen. Und zwar von allen beteiligten Staaten. Wenn es aber um die Bedingungen zur Unterbringung von Flüchtlingen geht, halte ich Volksentscheide durchaus für sinnvoll.