Singing the Bavarian Obergrenzen-Blues

Reaktionärer Irrsinn in Reinkultur

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Mit der eintönigen Beharrlichkeit einer Schallplatte, die einen Sprung hat, wiederholen Horst Seehofer und seine CSU das Lied von der Obergrenze für den Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland. Selbst dem Versuch, den Sprung in der Schüssel mühselig zu verkleistern, widersetzt sich die Christlich-Soziale Union. So wie bei einigen alten Liedern, die jedermann singt, ohne über den Inhalt nachzudenken, ist die gebetsmühlenhaftige Beschwörung der Obergrenze zur Routine geworden.

Doch Nachdenken wäre den Aufwand wert; denn kein CSU-Politiker überlegt noch, was wirklich gemeint ist, wenn die Gesinnungsgenossen den Obergrenzen-Blues abnudeln. Und schon gar nicht, welche dramatischen Folgen es haben würde, wenn diese Obergrenze tatsächlich einmal gelten würde.

Eine starre Obergrenze von 200.000 Zuwanderern aus dem Ausland läuft nämlich auf eine Reduzierung aller Zuwanderung auf einen so gut wie nie dagewesenen Tiefststand hinaus. So tief ist die reale Zuwanderung nach Deutschland praktisch nie gesunken. Wenn man sich das konkret vor Augen führt, wird der demografische Irrsinn dieses Postulats bewusst.

Bis in die frühen 1990er Jahre hinein lag die jährliche Bruttozuwanderung nach Deutschland zum Teil über einer Million, und die Nettozuwanderung übertraf 600.000 Menschen. Und auch damals leierten schon die Politiker - übrigens aller Couleurs - stets dieselbe Redensart herunter, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Besonders gern und oft in Wahlkampfzeiten.

Angesichts der realen Zahlen wäre das ein - wenn auch primitiver - Witz gewesen, wenn daran irgendetwas gewesen wäre, worüber man lachen könnte. Aber es fehlte eine Pointe. Denn es war nur ein besonders bestürzendes Zeichen einer gnadenlosen, geradezu barbarischen Verbohrtheit, die darauf zurückzuführen ist, dass der "Weitblick" demokratischer Politiker selten weiter als bis zum nächsten Wahltermin reicht.

Doch der demografische Wandel ist nicht bloß ein fashionabler Gesprächsstoff, über den man auf Partys neunmalklug smalltalken kann. Und er ist auch nicht einfach nur eines von mehreren möglichen Zukunftsszenarien. Er ist eine unverrückbare Tatsache. Die wesentlichen Eckpunkte der Entwicklung sind längst festgeschrieben und können nicht mehr zurückgedreht werden. Er rollt über alle Industriegesellschaften hinweg - ob sie nun darauf vorbereitet sind oder nicht.

Die Fakten: Deutschland hat derzeit 82,8 Millionen Einwohner. Schon heute ist fast jeder Vierte über 60 Jahre alt. Die Bevölkerung altert und schrumpft rasant. Würden die Grenzen heute geschlossen, gäbe es 2050 nur noch 58 Millionen Einwohner in Deutschland. 40 Prozent von ihnen wären über 60. Der Zeitpunkt ist nicht mehr allzu fern, an dem die Mehrheit der Bevölkerung älter als 60 Jahre sein wird.

Seit den 1970er Jahren sinkt die Bevölkerungszahl beständig. Wenn es so weitergeht, werden schon 2050 nur noch halb so viele Menschen in Deutschland geboren, wie jährlich sterben. Schon seit langem sterben Jahr für Jahr mehr Deutsche, als geboren werden. Und es gibt so gut wie keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern.

Deutschland verliert bis 2037 ein Sechstel seiner Einwohner, die Bevölkerungszahl schrumpft in weniger als 20 Jahren von 82 auf 68 Millionen. Unausweichlich. Egal, was sonst geschieht. Das ist nicht mehr aufzuhalten und schon gar nicht umzukehren. Durch den Geburtenrückgang verliert Deutschland in jeder Generation ein Drittel seiner Bevölkerung.