Der Krieg der türkischen Militärs im Südosten der Türkei

Provinz Mardin. Foto: MikaelF / CC BY-SA 3.0

"Anti-Terror-Einheiten" gehen mit brutalen Mitteln und Folter gegen Bewohner in der Provinz Mardin vor

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Die türkische Staatsanwaltschaft stellte vergangene Woche die Ermittlungsverfahren gegen die türkischen Spezialeinheiten und Armee ein, denen vorgeworfen wurde, dass sie im vergangenen Jahr in Cizre den Tod von 177 Menschen, die in Kellern umkamen, zu verantworten hatten. Die Handlungen seien als legitime Verteidigung zu werten.

Die Staatsanwaltschaft bestritt damit die Einschätzung der Forensiker, dass in Cizre Verbrechen durch das Militär begangen wurden. Über das Massaker und die Vorwürfe gegen das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte wurde im Februar 2016 an dieser Stelle ausführlich berichtet (In den Kellern von Cizre), die Vorwürfe wurden von Augenzeugenberichten untermauert.

Vorwurf neuer Angriffe bei Nusaybin

Am vergangenen Wochenende hat es angeblich neue Angriffe auf die kurdischen Bevölkerung im Südosten gegeben. Für neun Dörfer in der Nähe der Kreisstadt Nusaybin (kurd.: Nisebîn) im der Provinz Mardin (kurd.: Mêrdîn) war am 1. Februar der Ausnahmezustand verhängt worden. Nach einem Tag wurde er für acht Dörfer wieder aufgehoben, für das Dorf Xerabê Bava hält er noch an.

Ausnahmezustand bedeutet die Abriegelung des Dorfes von der Außenwelt. Die Dorfbewohner sind in ihren Häusern so gut wie eingesperrt und können das Dorf nicht verlassen. Telefon- und Internetleitungen sind gekappt, die türkische Armee kann mit ihren Spezialeinheiten ungehindert agieren. "Wir wissen nicht, was in diesem Dorf passiert", erklärte die HDP Abgeordnete Feleknas Uca.

Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Linken, hatte in der Vergangenheit das Dorf mehrmals besucht. Sie berichtet, dass Soldaten Fotos von brennenden Häusern und schrecklich zugerichteten Menschen in den sozialen Netzwerken posten. 39 Festgenommene sollen vor den Augen der Dorfbewohner gefoltert worden sein, zwei Dorfbewohner sind verschwunden.

Jelpke kritisiert die Bundesregierung, dass sie schon vor einem Jahr, als über hundert Menschen in den Kellern von Cizre verbrannten und Städte zerstörerischen Angriffen ausgesetzt waren, gegenüber der türkischen Regierung geschwiegen hatte. Durch ihr erneutes Schweigen bringe sie nun das Leben der Menschen von Xerabê Bava in noch größere Gefahr, beklagt Ulla Jelpke.

Verhaftungen und Folterungen

Unbestätigten, örtlichen Berichten zufolge griffen türkische Militärs das Dorf mit Tränengas an. Augenzeugen berichteten, dass zahlreiche Dorfbewohner von den "Anti-Terror-Einheiten" festgenommen und auf dem Dorfplatz gefoltert wurden. Drei Menschen sollen regelrecht hingerichtet worden sein. Verletzte durften nicht ins Krankenhaus transportiert werden. 39 Bewohner des Dorfes Xerabê Bava wurden nach den öffentlichen Folterungen verhaftet und abtransportiert.

In sozialen Netzwerken kursiert eine Liste der Verhafteten wie auch verschiedenste Bilder, die von beteiligten Soldaten gepostet wurden. Ein Bild zeigt einen am Boden liegenden verletzten Mann, dahinter posiert ein türkischer Soldat mit Gewehr und Wolfsgruß, dem Zeichen der faschistischen Grauen Wölfe. Ein ANF-Video zeigt angeblich die brennenden Häuser des Dorfes.

Seit letztem Jahr wurden zahlreiche kurdische Dörfer, Städte und Bezirke durch türkisches Militär zerstört, wie zum Beispiel Varto (Gimgim), Cizre (Cizîr), Diyarbakir-Sur (Amed-Sur), Yüksekova (Gever), Şırnak (Şirnex) oder Nusaybin (Nisebîn). An dieser Stelle wurde ausführlich über den Krieg berichtet, der dort mit grausamen Mitteln gegen die kurdische Bevölkerung geführt wird.

Die Gründe für die Verhaftungen gleichen sich

Nusaybin, das direkt an der syrischen Grenze liegt, wurde zuletzt aus der Luft bombardiert. Das Ausmaß der Zerstörung hat der Journalist Kerem Schamberger auf facebook gepostet. Mittlerweile sitzen ganze kurdische Familien in der Türkei im Gefängnis: Vesile Yüksel befindet sich mit ihren zwei und fünf Jahre alten Töchtern wegen Facebook-Postings im Gefängnis von Mardin, ebenso ihr Vater, Fettah Tekin. Ein Bruder von ihr sitzt im Gefängnis von Izmir, ein weiterer wurde kürzlich in Nusaybin von der türkischen Armee ermordet. Auch drei Cousins von Vesile sind inhaftiert.

Täglich gibt es neue Verhaftungen quer durch die Gesellschaft. Die Vorwürfe sind immer dieselben: Unterstützung einer terroristischen Organisation. Gemeint ist in der Regel nicht der IS,- es gibt kaum Verhaftungen von Islamisten - sondern entweder werden vermeintliche Gülen-Anhänger als Unterstützer von "FETÖ", wie die Gülen-Bewegung genannt wird, verhaftet oder HDP-Abgeordnete oder Mitglieder, die der Unterstützung der PKK bezichtigt werden.

Die Zeitung Hürriyet berichtete, dass am Wochenende innerhalb von 12 Stunden 1.873 Menschen festgenommen wurden. 11.500 Beamte sollen dabei im Einsatz gewesen sein. Genaue Informationen, was ihnen vorgeworfen wird, gibt es noch nicht. Vermutet wird, dass es sich um eine Operation gegen vermeintliche Gülen-Anhänger gehandelt hat.