Lernen aus Katastrophen?

Das unterschätzte Risiko von Medizinprodukten

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Wer muss Schadensersatz und Schmerzensgeld zahlen, wenn Brustimplantate fehlerhaft sind? Der Europäische Gerichtshof hat sich vor kurzem mit dieser brisanten Frage beschäftigt. Sein Urteil ist wichtig für zahlreiche Prozesse, die aktuell in Europa geführt werden. Was aber noch wichtiger ist: Seine Entscheidung hat das Potenzial, das Verbraucherschutzrecht in Deutschland deutlich zu verbessern.

Medizinskandal: Industriesilikon in Brustimplantaten

Es war der Medizinskandal des Jahres 2010. Der französische Hersteller "Poly Implant Prothèse" (PIP) hatte jahrelang Brustimplantate an Kliniken und Ärzte verkauft, die mit billigem, gesundheitsschädlichem Industriesilikon gefüllt waren. Nach Schätzungen wurden weltweit mehreren 100.000 Frauen diese gefährlichen Billig-Implantate eingesetzt. Inzwischen sind tausenden Frauen die Implantate operativ wieder entfernt worden, um drohende Gesundheitsschäden zu vermeiden.

Das Unternehmen ging 2011 in Konkurs; der Unternehmensgründer wurde 2016 in letzter Instanz zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. In einer Welle von zivilrechtlichen Prozessen geht es seitdem um Schadensersatz und Schmerzensgeld. Im Fokus der Verfahren steht inzwischen der TÜV Rheinland. Wie kommt es dazu? Und eine zweite, ganz grundlegende Frage stellt sich auch: Sind die rechtlichen Regelungen effektiv genug, um Gesundheitsschäden zu vermeiden?

Der TÜV als Opfer?

Der TÜV hat 1997 das Qualitätssicherungssystem von PIP auditiert und den Implantaten das europäische CE-Qualitätssiegel bestätigt. Allerdings hat er weder die Geschäftsunterlagen eingesehen noch die Qualität der hergestellten Implantate überprüft. Der jahrelange Betrug ist ihm deshalb nicht aufgefallen. Seine Verteidigung: Gegen die kriminelle Energie des Unternehmers habe er nichts ausrichten können. Macht er es sich in seiner Opferrolle nicht zu einfach?

Rechtlich hätte er ohne weiteres strengere Prüfungen vornehmen können. Es wäre kein Problem gewesen, alle Geschäftsunterlagen zu prüfen und Produkttests vorzunehmen. Da sind die einschlägige europäische Richtlinie und das deutsche Medizinproduktegesetz eindeutig. Bei Stichproben wäre die mangelhafte Qualität der Implantate aufgefallen. Die Korrespondenz von PIP mit Silikonherstellern hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit Indizien für den Betrug ergeben.

Hätte der TÜV also strenger prüfen und genauer hinschauen müssen? Mehrere Zivilprozesse in Deutschland und Frankreich haben sich damit befasst. Die Urteile waren unterschiedlich: Manche Gerichte sahen eine Pflichtverletzung des TÜV; andere begriffen den TÜV selbst als Opfer krimineller Machenschaften. Seit 2015 wird um die Haftung in letzter Instanz vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe gestritten. Das deutsche Medizinproduktegesetz basiert inhaltlich weitgehend auf einer europäischen Richtlinie von 1993. Deshalb reichte der BGH die entscheidende Frage nach der Pflichtverletzung in einem sog. Vorlageverfahren nach § 267 AEUV an den EuGH weiter. Jetzt hat der EuGH am 16. Februar entschieden (Rs. C-219/15).

Sein Verdikt: Im Bereich der Medizinprodukte gibt es keine generelle Pflicht, ohne konkreten Anlass Produkte im laufenden Betrieb zu überprüfen. Das ändert sich aber grundlegend, wenn es Hinweise gibt, dass ein Produkt den qualitativen Anforderungen der Medizinprodukte-Richtlinie nicht entspricht. Dann sind intensivere Prüfungen und effektive Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher notwendig. Hilft dieses Urteil der Klägerin?

Schmerzensgeld für die Klägerinnen?

Die Chancen, dass die Klägerin Schadensersatz und Schmerzensgeld vor dem BGH erstreiten kann, seien durch das europäische Urteil gesunken. Das schreibt jedenfalls die Tagespresse. Diese Einschätzung ist voreilig, wenn nicht sogar falsch. Warum? Seit 1996 waren die Brustimplantate von PIP Gegenstand mehrerer Klageverfahren in den USA. Die amerikanische Aufsichtsbehörde für Lebensmittel und Arzneimittel (FDA) stoppte im Mai 2000 die Einfuhr der Implantate in die USA. Seit 2006 wird in der medizinischen Fachliteratur über Probleme mit Implantaten der Firma PIP berichtet.

Deutlichere Hinweise auf Qualitätsmängel sind kaum denkbar. Trotzdem hat der TÜV jahrelang nichts unternommen, um den Vorwürfen gegen PIP nachzugehen. Ob das nicht doch eine Pflichtverletzung war, wird der BGH jetzt entscheiden. Davon hängt es ab, ob die betroffenen Frauen in Deutschland vom TÜV Schadensersatz und Schmerzensgeld fordern können.

Verbraucherschutz - Lernen aus Katastrophen

Manchmal braucht es Krisen oder Katastrophen, um Lernprozesse und Veränderungen in Gang zu setzen. Das gilt auch für das Recht und den Verbraucherschutz. Ein Beispiel: Die Contergan-Katastrophe Anfang der 1960 er Jahre hatte erhebliche Auswirkungen auf die Politik, den Verbraucherschutz und das Arzneimittelrecht. Vielleicht lässt sich auch aus dem Skandal um PIP etwas lernen?

Medizinprodukte wie etwa Brustimplantate sind deutlich weniger streng reguliert als Arzneimittel. Medikamente kommen grundsätzlich nur dann auf den Markt, wenn sie nach umfangreichen Prüfungen und Studien vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ausdrücklich zugelassen werden. Das ist die klassische Kontrolle durch staatliche Behörden, die man auch in anderen riskanten Bereichen kennt.

Völlig anders ist die rechtliche Lage bei Brustimplantaten und anderen Medizinprodukten. Die qualitativen Anforderungen an Medizinprodukte, die das Recht festlegt, sind zwar hoch. Der neuralgische Punkt ist allerdings die Kontrolle. Es gibt keine Zulassungskontrolle durch staatliche Behörden. Der Hersteller erklärt selbst, dass sein Produkt den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Das wird nicht von einer staatlichen Stelle nachgeprüft, sondern von einem privaten Unternehmen im Auftrag des Staates.

Medizinprodukte lassen sich also deutlich einfacher auf den Markt bringen als Medikamente. Sie seien - das ist die Rechtfertigung - weniger gefährlich als Arzneimittel. Ist das wirklich so? Zweifel sind erlaubt. Medizinprodukte sind nicht nur harmlose Waren wie etwa Pflaster, Brillen oder Hörgeräte. Zu ihnen zählen auch Herzschrittmacher, Stents und Brustimplantate, die erhebliche Risiken für die Gesundheit mit sich bringen. Vielleicht ist es höchste Zeit, dass der Gesetzgeber über eine wirksamere Kontrolle des Medizinproduktemarkts nachdenkt?

Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.