NSU-Polizistenmord: Ermittlungssabotage in Süd-West

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Kiesewetter-Ausschuss: Nach dem November 2011 wurden die Fahnder in Baden-Württemberg kalt gestellt - Der Anschlag ist ungeklärt

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Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die Ermittlungen zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn, beeinflusst wurden - und wie das geschah.

Erst wurden sie jahrelang behindert, dann - nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 - wurden die bis dahin erzielten Erkenntnisse für null und nichtig erklärt, schließlich sollten gar keine Ermittlungen mehr stattfinden. Doch vier Jahre mühsamer politischer Aufarbeitung des NSU-Skandals unter anderem durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben die Decke soweit gelüftet, dass das sichtbar geworden ist.

Es ist ein Desaster - allerdings ein organisiertes. Und es hat dazu geführt, dass der Polizistenmord von Heilbronn bis heute nicht aufgeklärt ist, allen gegenteiligen Verlautbarungen zum Trotz. Nicht Böhnhardt und Mundlos waren die - alleinigen - Täter, sondern mindestens vier bis sechs Personen müssen an dem Anschlag beteiligt gewesen sein. Möglicherweise hatten auch die beiden Uwes dabei eine Rolle. Welche, ist unklar.

Soll das Attentat nicht aufgeklärt werden?

Im Kiesewetter-Ausschuss von Baden-Württemberg kamen weitere Einzelheiten des Ermittlungsdesasters zur Sprache, auch wenn das nicht so genannt wird. Eine Art unfreiwillige Kronzeugin ist die Kriminalhauptkommissarin Sabine Rieger vom Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart, die bereits zigmal in den Untersuchungsausschuss geladen wurde. Die Fakten kommen scheibchenweise ans Licht. Die Karrierebeamtin trägt die durch die Bundesanwaltschaft angeordnete Umpolung der Ermittlungen nach dem November 2011 ausschließlich Richtung Böhnhardt und Mundlos gleichwohl mit. "Täterorientiertes Ermitteln" nennt sie es.

Die Täter standen also fest. Die Entwertung ihrer kriminalpolizeilichen Arbeit vor 2011, die damit einherging, hinterfragt sie nicht. "Vieles von vorher war jetzt für den Mülleimer", sagt sie nur. Doch gerade wegen ihrer opportunistischen Haltung bezeugt sie die verunmöglichten Ermittlungen. Zusammen mit ihrer Kollegin, der Kriminalrätin Heike Hißlinger, die in den Jahren 2013/2014 die machtlose Ermittlungsgruppe Umfeld des LKA leitete.

Aufarbeitung des NSU-Komplexes - das betrifft nicht mehr nur die zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle zwischen 1998 und 2011, auch nicht mehr nur die erfolglose Fahndung nach dem Trio in diesen Jahren, sondern es betrifft inzwischen auch die tendenziösen Ermittlungen, die seit 2011 angestellt werden.

Zum Nichtstun verdammt

Nur wenige Monate, bis zum Mai 2012, arbeiteten die Baden-Württemberger noch dem Bundeskriminalkamt (BKA) zu, dann wurde ihr sogenannter Regionaler Ermittlungsabschnitt (RegEA) von heute auf morgen eingestellt und aufgelöst - mitten in den Ermittlungen. Damit waren die Kräfte des LKA, die bis dahin den Kiesewetter-Mord untersucht hatten, kalt gestellt, zum Nichtstun verdammt, abgeschnitten von Informationen, ohne festen Ansprechpartner im BKA. Von den Vernehmungen, die das BKA selber weiterhin in Baden-Württemberg durchführte, hätten sie nichts gewusst, so Rieger. Und auch über die Bezüge des NSU-Trios nach Ludwigsburg hätten sie nur "Nicht-Wissen" gehabt.

Informationen zog das LKA BaWü in jener Zeit, seltsam genug, vor allem aus der öffentlichen Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, wie Sabine Rieger weiter erklärte. Ein dreiviertel Jahr dauerte diese ermittlungslose, blinde Zeit, dann war sie vor allem politisch nicht mehr tragbar. Der Innenminister des Landes setzte eine eigene Ermittlungsgruppe ein, die EG Umfeld. Allerdings bekamen die Baden-Württemberger damit keine Ermittlungskompetenz zurück, denn sie konnten gegenüber Zeugen oder Verdächtigen lediglich freiwillige Befragungen nach Polizeirecht durchführen, aber keine zwingenden Vernehmungen nach Strafrecht.

Das Ergebnis war entsprechend. Etliche Personen redeten nicht einmal mit diesen halbstarken Ermittlern. Ein Zeuge habe die Tür direkt wieder zugemacht, als die Polizist bei ihm klingelten. Dabei handelte sich um einen Neonazi, der in Chemnitz zum unmittelbaren Umfeld des Trios zählte und später an den Neckar zog: Andreas Graupner, Mitglied der rechtsextremen Band Noie Werte, deren Töne eine Vorversion des Propaganda-Videos unterlegte.

Ähnlich bei Markus Friedel, ebenfalls ehemals rechte Szene in Chemnitz und dann an den Neckar umgesiedelt. Nach Erkenntnissen der Ermittler, so Rieger, eine wichtige Schnittstellenfigur zwischen den Szenen in Chemnitz, Jena und Ludwigsburg, Heilbronn, ein "bindendes Element". Auch Friedel "kooperierte" nicht, will heißen: beantwortete keine Fragen der Ermittler.