"Wir sind müde vom Krieg"

Der Buchhändler Shamsullah. Bild: E. Feroz

Gespräch mit einem Kabuler Buchhändler

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Seit wann sind Sie als Buchhändler am Kabuler Basar tätig?

Shamsullah: Ich verkaufe Bücher an meinem Stand seit 22 Jahren. Mein Ziel war dieser Beruf eigentlich überhaupt nicht. Zuvor war ich als Pilot in der Luftwaffe tätig. Das war zu der Zeit als die erste kommunistische Regierung in Kabul an die Macht kam. Viele junge Afghanen waren damals ambitioniert. Sie erlernten die verschiedensten Berufe um ihrem Land zu dienen. Doch am Ende hat der Krieg wie so oft in diesem Land alles zerstört.

Kann man vom Buchhandel in Kabul gut leben?

Shamsullah: Ich verkaufe im besten Fall pro Stunde ein Buch. In einem Land, in dem der Großteil der Bevölkerung weder Lesen noch Schreiben kann, ist es schwierig, vom Bücherverkauf zu leben. Die meisten Menschen laufen vorbei und starren nur. Sie wundern sich wahrscheinlich auch, wie man von einer solchen Arbeit leben kann. Am Ende des Tages reicht es aus, um meine Familie zu ernähren. Grund zum Jammern habe ich dennoch genug.

Woher stammen die meisten Ihrer Bücher?

Shamsullah: Das ist sehr unterschiedlich. Viele der Bücher, die zum Verkauf stehen, sind in Dari oder Paschto, sprich, den afghanischen Landessprachen. Hierzulande wird allerdings nicht mehr viel gedruckt. Deshalb sind die meisten afghanischen Bücher, die ich anbiete, alt. Neuere Bücher stammen aus dem Iran oder aus Pakistan. In beiden Ländern gibt es viele Afghanen. Dementsprechend werden dort regelmäßig Bücher gedruckt, die mit Afghanistan zu tun haben. Ich habe auch viele englische Bücher.

Was sind Ihre Bestseller?

Shamsullah: Hitlers "Mein Kampf" lässt sich immer gut verkaufen. Hinzu kommt das Tagebuch von Ché Guevara. Seit einigen Wochen interessieren sich immer mehr Menschen für das Leben von Habibullah Kalakani, jenes Mannes, der 1929 unseren König Amanullah stürzte und für einige Monate auf dem Thron saß. [Anmerkung: Zum Zeitpunkt des Interviews gab es innerhalb der afghanischen Politik eine Kontroverse um Kalakani.]

Wer in Kabul seit über zwei Jahrzehnten als Buchhändler tätig ist, hat auch selbst viel Geschichte erlebt.

Shamsullah: Das ist richtig. Im Laufe der Zeit habe ich das auch an meinen Büchern bemerkt. Meine Regale füllten sich mit den Biografien jener Männer, die unser Land zerstört haben. Über viele dieser Kriegsfürsten und Politiker streiten sich die Menschen heute noch. Wer allerdings lesen kann, ist klar im Vorteil. Wer sie waren und was sie getan haben, lässt sich hier ganz einfach nachlesen. Ob sie gut oder schlecht gewesen sind, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Sie waren Pilot unter den Kommunisten. Waren Sie selbst auch einer?

Shamsullah: Nein, wobei ich von der sozialistischen Idee damals angetan war. Ich habe allerdings oft den Eindruck, dass viele Afghanen nicht wissen, was ein Kommunist ist. Für viele Menschen hier ist "Kommunist" ein Schimpfwort. Sie denken, dass jeder Kommunist per se gottlos und kein Muslim sei. Das stimmt allerdings keineswegs. Viele Kommunisten von damals haben sogar fünf Mal am Tag gebetet.

Diese Abneigung hat vielleicht mit der sowjetischen Besatzung in den 1980er Jahren zu tun. Immerhin wurden damals im Krieg über eine Million Afghanen getötet.

Shamsullah: Ja, der Hass auf die Kommunisten hat in vielerlei Hinsicht damit zu tun. Allerdings darf man die andere Seite der Medaille nicht vergessen. Ich habe damals selbst erlebt, wie viele Menschen in Kabul den Einmarsch der Kommunisten in Kabul gefeiert haben. Manche von ihnen waren regelrecht außer sich vor Freude und umarmten die Soldaten der Roten Armee. Und seien wir einmal ehrlich: Im Vergleich zum jetzigen System war das damalige eindeutig besser.

Inwiefern war es damals besser als heute?

Shamsullah: Für die Menschen hier zählen ganz einfache Dinge, die ihren Alltag beeinflussen. So etwas wie Selbstmordanschläge gab es damals zum Beispiel nicht. Natürlich, die Kommunisten folterten und mordeten. Sie schafften sich viele ihrer Feinde selber. Aber die andere Seite, jener der Mudschaheddin, war im Endeffekt auch nicht besser. Anfangs kämpften sie noch für eine gute Sache, später wurden ihre Führer korrupt. Kabul wurde nicht von den Kommunisten in Schutt und Asche gebombt, sondern von den Raketen der einstigen Rebellen, die sich nach dem Fall des Eisernen Vorgangs gegenseitig bekriegten.

"Ich wünschte, ich hätte meine Kinder nicht in diese Welt gesetzt"

Was sagt uns das über die heutigen Verhältnisse?

Shamsullah: Das gegenwärtige Leid der Afghanen hat in vielerlei Hinsicht mit den damaligen Ereignissen zu tun. Erst der Einmarsch der Sowjets, dann der Bürgerkrieg unter den verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen sowie der darauffolgende Aufstieg der Taliban. Nun ist die NATO hier und weiß ebenfalls nicht weiter. Ich wünschte, ich hätte meine Kinder nicht in diese Welt gesetzt. Sie sind unschuldig und haben mit all dem nichts zu tun.

Glauben Sie, dass viele Afghanen so denken?

Shamsullah: Ja, natürlich tun sie das. Das ist nämlich etwas völlig Menschliches. Die afghanische Gesellschaft ist von Ungleichheit geprägt. All die Politiker, die sich in den letzten Jahren bereichert haben, haben ihre Kinder schon längst ins Ausland geschafft. Sie studieren in Indien, in der Türkei oder irgendwo im Westen - weit weg von Krieg und Armut. Währenddessen muss die absolute Mehrheit des Volkes, die 99 Prozent, tagtäglich um ihr Überleben kämpfen. Viele Menschen hier wissen einfach nicht, ob ihre Kinder morgen überleben werden oder nicht. Das ist die Realität in diesem Land.

Als Buchhändler weiß man gewiss auch, dass diese Situation in den letzten Jahrhunderten oft in Afghanistan der Fall war.

Shamsullah: Die Geschichte Afghanistans wiederholt sich immer wieder. Hier marschiert jeder ein und scheitert am Ende. Das begann schon mit Alexander dem Großen. Andere Weltreiche versagten später ebenfalls, etwa die Perser oder die Briten. Viele behaupten, Afghanistans geografische Lage sei wichtig. Mittlerweile denke ich jedoch, dass unser Land einfach nur verflucht ist. Egal, wer das Land erobern wollte - im Endeffekt litt nur die Bevölkerung, die mit all den Machtspielen nichts zu tun hat.

"Ganz Afghanistan ist eine Familie im Dauerstreit"

Ausländische Mächte waren immer geschickt darin, die verschiedenen Ethnien und Stämme im Land gegeneinander auszuspielen.

Shamsullah: Wir leben in einem Vielvölkerstaat. Aber dabei sollten wir nicht vergessen, dass wir alle Afghanen sind. Immerhin ist dieses Land so entstanden. All die Ethnien und Stämme, ob Paschtunen, Tadschiken, Hazara oder Usbeken, konnten nur Frieden miteinander stiften, indem sie einander anerkannten und sich zusammenschlossen. Ganz Afghanistan ist eine Familie - und sie befindet sich im Dauerstreit. Imperiale Mächte waren sich stets darüber bewusst, wie sie den Streit förderten oder stifteten.

Denken Sie, dass der Krieg irgendwann ein Ende findet?

Shamsullah: Ob das auch eintritt, weiß nur Gott. Mittlerweile wollen viele Menschen einfach nur Frieden. Egal, wie er zustande kommt oder welche Seite gewinnt. Wir sind müde vom Krieg - und alle Seiten, die sich daran beteiligen, sind schuldig. Ich bin es leid, jeden Tag Bombenanschläge zu erleben oder von Massakern und Bombardements zu hören.

Würde dann auch Ihr Geschäft besser laufen?

Shamsullah: Das hoffe ich. Dafür muss man allerdings viele Faktoren miteinbeziehen, die sich nicht von heute auf morgen ergeben. Damit das Geschäft eines Buchhändlers hier besser läuft, muss die Alphabetisierungsrate steigen. Dies geschieht nur, wenn nicht nur Frieden herrscht, sondern auch mehr Schulen errichtet werden und allen Menschen im Land ein ausnahmsloser Zugang zu Bildung gewährt wird. Dieser Prozess muss einige Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, erfolgreich überdauern. Vielleicht lebe ich dann nicht mehr. Aber es wäre es wert - und die nächste Generation von Buchhändlern würde sich freuen.