"Für viele ist Weiterbildung vergleichbar mit einem Zahnarztbesuch"

Der Bundestagsabgeordnete Matthias Bartke (SPD) über die Agenda 2010, "Arbeitslosengeld Q" und die Chancen für Rot-Rot-Grün

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Herr Bartke, wann waren Sie zuletzt nicht einer Meinung mit Martin Schulz?

Matthias Bartke:Als er meinte, dass Aachen im Schatten von Würselen groß geworden sei (lacht). Nein, im Ernst, seit er Kanzlerkandidat ist, bin ich mit ihm bisher immer einer Meinung gewesen. Er macht das großartig. Und vor allem gibt er den Menschen eine klare Orientierung in diesen schwierigen Zeiten.

Sie sagten kürzlich im Bundestag: "Wir wollen mit unseren Antworten die Chancen, nicht die Ängste in den Vordergrund stellen." Wie passt das zu den Kernaussagen Martin Schulz'?

Matthias Bartke: Sehr gut sogar. Wieso fragen Sie?

Ihr Parteichef sagt, in Deutschland gehe es nicht gerecht zu, er stellt in seinen Reden die Abstiegsängste der Arbeitnehmer in den Vordergrund. Schürt er damit nicht deren Sorgen?

Matthias Bartke: Falsch! Martin Schulz packt die Dinge an, er will Probleme lösen. Das kann er aber nur, wenn er den Finger in die Wunde legt und die Ängste der Bürger klar benennt.

Noch vor zwei Jahren lobte Martin Schulz die Agenda 2010, nun distanziert er sich von der Schröder-Reform. Was antworten Sie denen, die sagen, das sei nicht glaubwürdig?

Matthias Bartke: Unser Kanzlerkandidat hat die Erfolge der Agenda nie in Frage gestellt, er sieht lediglich Korrekturbedarf. Das ist ein großer Unterschied. Wenn man merkt, dass etwas nicht optimal läuft, dann muss man nachbessern.

Sie haben in der Großen Koalition bereits eine Menge Korrekturen vorgenommen, beispielsweise den Mindestlohn oder die Rente mit 63.

Matthias Bartke: Es war in der Tat ein Fehler, den Mindestlohn nicht von Anfang an einzuführen. Leider wurde das erst richtig klar, als wir bereits in der Opposition saßen. Sie haben übrigens noch einen Punkt vergessen: die Leiharbeit, die mit der Agenda 2010 geradezu explodiert ist. Daher hat Arbeitsministerin Andrea Nahles die Leiharbeit klar reguliert.

Apropos, Martin Schulz will den Arbeitgebern verbieten, Arbeitsverträge ohne sachlichen Grund zu befristen. Würde nicht genau dadurch die Zahl der Leiharbeiter wieder steigen?

Matthias Bartke: Das glaube ich nicht. Die sachgrundlose Befristung wurde doch erst 1985 von Helmut Kohl eingeführt. Zu dem Zeitpunkt gab es gerade mal 50.000 Leiharbeitnehmer. Angestiegen ist die Zahl der Leiharbeitnehmer immer dann, wenn die Verleihdauer vom Gesetzgeber erhöht wurde. Deshalb haben wir sie jetzt auf 18 Monate begrenzt. Im Übrigen haben wir nichts gegen Leiharbeit, wenn sie ihrem eigentlichen Zweck dient, Auftragsspitzen abzuarbeiten und zeitlich begrenzte Personalengpässe zu überbrücken. Wir wollen aber nicht, dass Leiharbeitnehmer reguläre Arbeitnehmer verdrängen. Auch deshalb haben wir das Gesetz zur Regulierung der Leiharbeit verabschiedet, dass am 1. April endlich in Kraft tritt.

Die Arbeitgeberverbände sind indes empört über die SPD-Pläne, sie verweisen darauf, dass der Anteil befristeter Stellen seit Jahren rückläufig ist.

Matthias Bartke: Ich halte diese Argumentation für fatal. Die sachgrundlosen Befristungen treffen doch in den allermeisten Fällen junge Menschen. Fast ein Fünftel der Beschäftigten unter 35 Jahren ist befristet. Gerade junge Menschen wollen doch eine Familie gründen. Kann ich mich denn wirklich trauen, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn ich gar nicht weiß, wie es beruflich mit mir weitergeht? Wir wissen alle, Deutschland hat ein erhebliches demographisches Problem. Ich glaube, der Anreiz, eine Familie zu gründen, wird nicht durch mehr Kindergeld geschaffen. Er entsteht, wenn ich den Eltern eine sichere Lebensperspektive biete. Und genau die erreichen wir, indem wir die sachgrundlose Befristung abschaffen.

"Bilde dich weiter und du bekommst neue Chancen"

Zu Beginn der Agenda erhielt ein 50-Jähriger ALG1 bis zu 12 Monate lang, seit 2008 sind es 15 Monate. Nun will die SPD die mögliche Bezugsdauer ein weiteres Mal verlängern, auf bis zu 39 Monate, für über 58-Jährige sogar auf vier Jahre...

Matthias Bartke: … für diejenigen, die sich weiterbilden, ja. Kurz: "Arbeitslosengeld Q". Es läge auf Höhe des Arbeitslosengeldes 1 und soll solange gezahlt werden, wie die Qualifizierung dauert. Es ist eine Reaktion auf die sich verändernde Arbeitswelt mit stetig wechselnden Qualifikationsanforderungen.

Welche Botschaft wollen Sie damit senden?

Matthias Bartke: "Bilde dich weiter und du bekommst neue Chancen - wir schreiben dich nicht ab!" Wer länger aus dem Arbeitsleben heraus ist, muss qualifiziert werden - das halten wir für dringend nötig. Wir werden die verfügbare Arbeitskraft brauchen.

Das könnten Sie aber auch tun, ohne das Arbeitslosengeld 1 ein weiteres Mal zu verlängern, oder?

Matthias Bartke: Wenn du über 40 Jahre gearbeitet hast und dann nach zwei Jahren in Hartz IV fällst, ist das nicht gerecht. Das löst bei vielen Menschen große Ängste aus. Glauben Sie mir, damit kommen die Bürger am Infotisch als erstes. Abstiegsängste, Existenzsorgen, die große Frage: "Wie geht es mit mir weiter?" - All das müssen wir doch ernst nehmen! Oder wollen wir dieses Feld allen Ernstes den Rechtspopulisten überlassen? Das wäre ein Riesenfehler.

Wie kommt Ihre Partei darauf, es wäre genau richtig, also: gerecht, wenn Ältere bis zu vier Jahre lang ALG1 bekämen? Warum nicht fünf Jahre?

Matthias Bartke: Es ist ja nicht so, dass wir das Arbeitslosengeld nur einfach so verlängern wollen. Nein, im Fokus steht die Qualifizierung. Darauf sollen Arbeitslose künftig einen Rechtsanspruch haben, der bereits nach drei Monaten ansetzt. Denn klar ist: Je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird es für ihn, einen Job zu finden. Ich bin überzeugt, das ALG Q wäre ein weiterer Anreiz für eine sinnvolle Weiterbildung.

Kritiker sprechen von einem Fehlanreiz.

Matthias Bartke: Diese Kritik teile ich nicht. Ich fürchte, für viele Menschen ist Weiterbildung vergleichbar mit einem Zahnarztbesuch: Beides macht man nicht wirklich gern. Dass Menschen über fünfzig ungern noch einmal etwas völlig Neues beginnen wollen, ist doch klar. Ich halte es daher für völlig abwegig, dass plötzlich alle Arbeitslosen sagen: "Toll, ich gehe jetzt zur Weiterbildung, dann bekomme ich ja noch länger Arbeitslosengeld." Nein, die Menschen bilden sich gerne dann fort, wenn sie wissen, dass sie danach Jobangebote bekommen. Und das ist ja auch der Sinn des Vorschlages von Martin Schulz.

Zwei Drittel der 55- bis 64-Jährigen sind beschäftigt - im Jahr 2000 waren es 37 Prozent. Hat das aus Ihrer Sicht denn gar nichts mit der Agenda zu tun?

Matthias Bartke: Das hat mit Sicherheit damit zu tun. Aber es ist nicht das zentrale Moment. Wir haben einen Fachkräftemangel, der den positiven Nebeneffekt hat, dass die Unternehmen plötzlich ältere Arbeitnehmer mit ihrem Erfahrungsschatz stärker wertschätzen. Die Frühverrentungswellen der Vergangenheit gibt es nicht mehr.