Merkels Politik: Alles Gute kommt nach oben

Bild: Deutscher Bundestag/Achim Melde

Deutschland geht es gut? Von wegen. Angela Merkels Politik hat unser Land ungerechter und auf Dauer krisenanfälliger gemacht

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Für Angela Merkel ist die Sache klar: "Zu dem, was mir Mut für unser Deutschland macht, gehört auch unsere soziale Marktwirtschaft. Sie lässt uns Krisen und Veränderungsprozesse besser meistern als jedes andere Wirtschaftssystem auf der Welt. Noch nie hatten so viele Menschen Arbeit wie heute. Unsere Unternehmen stehen überwiegend gut da. Unser wirtschaftlicher Erfolg gibt uns die Möglichkeit, unser Sozialsystem zu stärken und all denen zu helfen, die Hilfe brauchen", sagte sie in ihrer Ansprache zum Jahreswechsel 2016/2017. Will sagen: "Unser" Deutschland, "unsere" soziale Marktwirtschaft, "unsere" Unternehmen, "unser" wirtschaftlicher Erfolg und noch dazu "unser" Sozialsystem: Das große "Wir" läuft wie geschmiert, der Kanzlerin sei Dank.

Das Problem ist nur: Das schöne, harmonische Deutschland-Bild, das Angela Merkel da malt, hat mit der Wirklichkeit nur sehr begrenzt zu tun. In Wahrheit prägt das neoliberale Denken ihre Politik nicht nur in der Euro- und Bankenkrise. Dass der Markt die Bühne zu beherrschen habe; dass der Staat nicht etwa aktiv einzugreifen habe als Wächter über die gerechte Verteilung von Reichtümern und Risiken, sondern möglichst kleingespart werden müsse - dieser Ideologie folgt Merkels Regierung auch auf den unterschiedlichen Feldern der ökonomischen und sozialen Daseinsvorsorge.

Punktuelle Ausnahmen wie die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns oder der Ausbau der Kinderbetreuung sind natürlich zu begrüßen. Aber die verbreitete Ansicht, sie hätten etwas mit einem grundlegenden Politikwechsel zu tun, geht in die Irre. Es bleibt vielmehr dabei: Unternehmen werden systematisch entlastet, während die Politik sich durch den Verzicht auf Steuerungsmöglichkeiten selbst entmachtet. Kosten und Risiken werden zunehmend der solidarischen Verteilung entzogen und dem Einzelnen auferlegt - mit der Folge, dass es die Ärmeren immer härter trifft und die Reichen immer weniger beitragen müssen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Mutter Blamage und die Brandstifter von Stephan Hebel, das diese Woche im Westend Verlag erschienen ist. Stephan Hebel beschreibt, wie Merkels Politik Deutschland sozial ungerechter und auf Dauer anfälliger für Krisen macht. Er erklärt, warum sie damit den Aufstieg des Rechtspopulismus mitverschuldet hat. Und er benennt mögliche Alternativen.

Hinter der Legende, Angela Merkel habe ihre Partei oder gar das Land "nach links gerückt", verbirgt sich eine Fortsetzung des im Kern neoliberalen Kurses. Und am Ende wundern sich alle, wenn Wut und Enttäuschung um sich greifen und den Propagandisten nationalistischer Scheinlösungen zu Erfolgen verhelfen. An Beispielen, die dieses Zerrbild von der "Kanzlerin für alle" widerlegen, gibt es keinen Mangel. Hier seien nur einige genannt:

  • Europa dient Angela Merkel, wie im vorigen Kapitel beschrieben, als Spielfeld zur Durchsetzung ihres sozial ungerechten Konzepts von "Wettbewerbsfähigkeit".
  • Die Umverteilung von unten nach oben bei Einkommen und Vermögen geht weiter.
  • Unterstützt vom damaligen Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, setzte Angela Merkel auf Freihandelsabkommen wie TTIP (mit den USA) oder Ceta (mit Kanada), in denen die staatliche Daseinsvorsorge als "Investitionshemmnis" angesehen und investierenden Unternehmen ein weitgehendes Recht auf Klage gegen Staaten eingeräumt wird. Dass das Abkommen mit den USA als gescheitert angesehen werden kann, liegt bekanntlich keineswegs an besserer Einsicht, sondern an US-Präsident Donald Trump, der antrat, um den globalisierten Neoliberalismus durch einen nationalen, hinter Zollschranken verbarrikadierten Neoliberalismus zu ersetzen.
  • Selbst die Außen- und Sicherheitspolitik ist in weiten Teilen von dem Ziel bestimmt, die für Deutschland und andere reiche Länder günstigen Bedingungen auf den Weltmärkten zu sichern - entsprechend der Gauck’schen Formel, wonach sich auf Frieden vor allem auf Freihandel reimt. Zwar geht es bei den Konflikten in der Ukraine oder Syrien und den Auseinandersetzungen darüber mit Russland um geostrategische Machtverhältnisse, die mit ökonomischen Interessen nur zum Teil zu erklären sind. Aber ganz frei von derartigen Überlegungen ist zum Beispiel auch der Streit um die Ukraine mit ihren Rohstoffen und fruchtbaren Böden nicht.
  • Ein Musterbeispiel für eine Sicherheitspolitik als Mittel zur Durchsetzung ökonomischer Interessen stellt die Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika dar. Dort, in den Gewässern vor dem Bürgerkriegsland Somalia, schlugen ausländische Trawler aus dem in der Region existierenden Machtvakuum so lange Profit, bis das Meer leergefischt und den einheimischen Fischern die Existenzgrundlage entzogen war. Dann nutzten organisierte Piraten die Lage der Fischer aus, um sie für Angriffe auf Handelsschiffe zu rekrutieren. Und daraufhin griff die internationale Gemeinschaft ein und startete die Militärmission "Atalanta". Das Ergebnis fasste Rashid Abdi, der die Region für die "International Crisis Group" betreut, wie folgt zusammen: "Wenn Europa sich nicht um die illegale Fischerei vor der somalischen Küste kümmert, bestätigt das nur das Vorurteil: Europa ist gleichgültig, solange keine Schiffe angegriffen werden."
  • Viel milder reagiert Merkels Regierung, wenn Unternehmen gegen Menschenrechte verstoßen. Sie verabschiedete im Jahr 2016 einen "Nationalen Aktionsplan Menschenrechte", der die Firmen auf bestimmte Standards verpflichten soll. Allerdings, so der Vorsitzende des entwicklungspolitischen Dachverbandes VENRO, Bernd Bornhorst: "Der Aktionsplan äußert zwar die Erwartung, dass Unternehmen die Menschenrechte bei ihren Auslandsgeschäften achten. Wenn Unternehmen dies ignorieren, müssen sie aber weder Bußgelder noch Zivilklagen oder andere Konsequenzen fürchten. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Auslandsinvestoren ihre Rechte international einklagen können, während Opfern von Menschenrechtsverletzungen diese Möglichkeit verweigert wird." Sollten die Unternehmen den Vorgaben nicht folgen, will die Bundesregierung die Einführung von Sanktionen "erwägen", statt sie sofort einzuführen.
  • Ein ganz besonderer Freund dieser Regierung ist die Autoindustrie. Das gilt selbst dann noch, wenn die Abgasreinigung bei Diesel-Pkw manipuliert wird, um einen geringen Schadstoffausstoß vorzugaukeln. In diesem Skandal betätigten sich das Verkehrsministerium von Alexander Dobrindt (CSU) und das ihm unterstellte Kraftfahrtbundesamt offensichtlich als Beschützer der Konzerne gegen eine kritische Bewertung der Betrugspraktiken, teilweise in direkter Abstimmung mit den Konzernverantwortlichen. Einen kleinen Geldsegen für die Automobilproduzenten gab es in Merkels dritter Amtsperiode auch: die Kaufprämie für Elektroautos. 4000 Euro Zuschuss bringen die Steuerzahler für jedes reine E-Fahrzeug auf, 3000 Euro für Plug-in-Hybride. Gegen diese Subvention für eine Branche, deren drei größte Unternehmen in zehn Jahren mehr als 215 Milliarden Euro Gewinn gemacht haben, protestierten nicht nur eingefleischte Gegner staatlicher Vorgaben wie zum Beispiel der Bund der Steuerzahler, sondern auch Mobilitätsexperten und Umweltschützer.
  • Unter dem Druck steigender Wohnungskosten verabschiedete die große Koalition eine "Mietpreisbremse", die allerdings einen Nachteil hat: Sie bremst die Mietpreise nicht. Zwar darf die Miete bei neuen Verträgen nicht um mehr als zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Aber erstens gibt es Ausnahmen, etwa für Neubauten, nach einer Modernisierung und auch dann, wenn die Miete vorher schon höher lag. Zweitens müssen die Vermieter nicht offenlegen, was die Wohnung vorher gekostet hat. Gerade so, als könnten es sich Wohnungssuchende in einer Großstadt heutzutage leisten, dem Anbieter zu sagen: "Wenn Sie die Vormiete nicht offenlegen, nehme ich die Wohnung eben nicht." Als die Linkspartei im September 2016 im Bundestag beantragte, die Ausnahmen zu streichen, lehnte die große Koalition ab, also auch die SPD.
  • Die Sozialsysteme sind zuerst unter Gerhard Schröder und dann unter Angela Merkel systematisch zu Lasten der Versicherten umgebaut worden. Bei der Rente hat die große Koalition zwar einige Verbesserungen für bestimmte Gruppen beschlossen: zum Beispiel die volle Rente mit 63 Jahren bei 45 Jahren Beschäftigung (die allerdings vor allem ohnehin ordentlich verdienenden Männern mit ungebrochener Erwerbsbiografie zugutekommt) oder Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente. Aber daran, dass das Rentenniveau sinkt, hat sich nichts geändert, obwohl die zuständige Ministerin Andrea Nahles (SPD) zuletzt von "Haltelinien" sprach. Die Riester-Rente, die die systematisch betriebene Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus ausgleichen soll, hat sich als gigantisches Förderungsprogramm für die private Versicherungswirtschaft entpuppt - finanziert zum einen Teil von den Arbeitnehmern und zum anderen durch eine staatliche Zulage, aber ohne einen einzigen Cent von Arbeitgeberseite. Und das gute Argument, dass auch höhere Rentenbeiträge (zugunsten eines auskömmlichen Rentenniveaus) zu verkraften wären, wenn die Arbeitnehmer gemessen an ihrer Produktivität besser verdienen würden, kommt in der Debatte so gut wie gar nicht vor.
  • In der gesetzlichen Krankenversicherung schließlich ist das Prinzip der Parität seit 2005 zugunsten der Arbeitgeber aufgegeben: Bis 2014 zahlten die Arbeitnehmer einen festen Zusatzbeitrag von 0,9 Prozent, seit 2015 erheben die Krankenkassen bei den Versicherten je eigene Zusatzbeiträge, während der Arbeitgeberanteil eingefroren wurde. So oder so sind die Unternehmen - von der Kanzlerin gern pauschal "die Wirtschaft" genannt - auch hier von den Kosten der Daseinsvorsorge zum Teil entlastet.

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