Zweimal Lebenslänglich für einmal Rasen

Ein ethnografischer Blick auf das Phänomen "Racing in the Street"

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Was sind die Antriebe, die dazu führen, dass Menschen sich mit ihren Autos auf Straßenrennen einlassen und in ihren extremen Ausprägungen ohne jede Rücksicht bis zum Tod von anderen oder vom eigenen Tod rasen? Eine ethnografische Spurensuche.

I got a sixty-nine Chevy with a 396
Fuelie heads and a Hurst on the floor
She's waiting tonight down in the parking lot
Outside the Seven-Eleven store
Me and my partner Sonny built her straight out of scratch
And he rides with me from town to town
We only run for the money, got no strings attached
We shut 'em up and then we shut 'em down.

Bruce Springsteen: Racing in the Street

Mit viel Gefühl, einer gehörigen Portion Melancholie und nur auf den ersten Blick romantisch verklärt, singt Bruce Springsteen vom "Racing in the Street" - das war 1978. Racing in the Street oder: Illegale Autorennen auf öffentlichen Straßen, ist kein kulturell neues Phänomen. Duelle zwischen Autofahrern, die unter Beweis stellen wollen, wer das schnellere Fahrzeug besitzt, gehören zum Alltag vieler Kulturen, in denen sich mit dem Auto fortbewegt wird. Beschleunigungsrennen auf irgendeinem Highway in irgendeinem US-Bundesstaat sind so normal wie Ampelrennen in einer durchschnittlichen Stadt an einem durchschnittlichen Tag in Deutschland. Aufs Gaspedal tritt, häufig genug, wer aufs Gaspedal treten kann. Bestimmte Personengruppen haben zwar, wie Forschungen zeigen, einen stärker ausgeprägten Hang zum Rennfahren, aber es gilt: Ob alt, ob jung, ob arm, ob reich, ob männlich oder weiblich, ob Familienvater oder Single, ob Auto mit 80 PS oder mit 400 PS, viele Autofahrer lassen sich auf ein "Kräftemessen" im Verkehr ein.

Wenn bei diesen Wettfahrten alles gut geht, dann war es ein kleiner Spaß, allenfalls ein Kick am Rande des Tages. Wenn es schlecht ausgeht, dann sind plötzlich, innerhalb von wenigen Sekunden, Leben und Existenzen zerstört. So wie in Berlin in jener Nacht des 1. Februars 2016.

Viel wurde in den vergangenen Tagen in den Medien über den Unfall in der Nähe des KaDeWe berichtet. Zwei Männer im Alter von 27 und 25 Jahren, unterwegs mit PS-starken Fahrzeugen, lieferten sich ein Rennen, das anfing, wie solche Rennen eben meistens anfangen. Keine große Verabredung im Vorfeld, kein Fahren um Geld oder einen anderen Preis. Ein Auto steht an einer roten Ampel. Ein anderes kommt auf der zweiten Spur dazu. Spätestens wenn bei Grün einer der Motoren aufheult, packt es oft auch den anderen Fahrer und dann folgt, was in unzähligen Filmszenen zu sehen ist: Die Autos beschleunigen schnell und rasen - auf Teufel komm raus. Die Vernünftigeren rasen allenfalls bis zur nächsten roten Ampel, die naturgemäß innerhalb einer Stadt nicht weit ist.

Doch die beiden Fahrer in jener Nacht ließen sich nicht von roten Ampeln aufhalten. Insgesamt 10 rote Ampeln überfuhren sie laut Medienberichten, bis schließlich einer von ihnen in den Jeep des 69-Jährigen Michael W. krachte. 70 Meter weit schleuderte es den Geländewagen, dessen Fahrer ordnungsgemäß über eine Kreuzung fuhr. Michael W. verstarb aufgrund der Schwere der Verletzungen noch am Unfallort. Die beiden Raser überlebten den Unfall. Sie wurden nicht oder nur leicht verletzt.

Und doch: In gewisser Weise endete auch ihr Leben am Unfallort - zumindest ihr bisheriges. Am 27. Februar in 2017 verurteilte das Berliner Landgericht die beiden Männer wegen Mordes zu lebenslangen Haftstrafen. Ein aus vielerlei Gründen umstrittenes Urteil, mit dem sich nun der Bundesgerichtshof beschäftigen muss. Die rechtliche Dimension aber ist nur die eine Seite eines gesellschaftlichen Phänomens, das vielschichtig ist.

Das Auto ist der Zugang zum Leben

Bruce Springsteen darf man zu jenen Sängern zählen, die ein besonderes Talent haben. Ihm gelingt es immer wieder, mit seinen Liedern tief in die amerikanische Seele hinein zu hören und in Form von Texten und Musik ihr Inneres freizulegen. Seine Lieder geben in komprimierter Form mit wenigen Worten oft einen besseren Einblick in seine Gesellschaft, als so manch soziologischer Text. Alleine schon die Tatsache, dass "The Boss" dem Phänomen des Straßenrennens ein eigenes Lied gewidmet hat, sagt viel aus. "Racing in the Street" liefert einen ersten Hinweis, dass wir es mit einem kulturell tief verwurzelten Phänomen zu tun haben.

Wer sich mit dem Liedtext auseinandersetzt, stellt fest: Gleich zu Beginn erscheint das Auto, ein 69er Chevy in einer mystifizierenden Form. Das Auto, dieses "Ding" aus Blech, wird zu einer "Sie", zu einer "weiblichen Existenzform" (was im Amerikanischen im Zusammenhang mit Autos oft der Fall ist, z.B. beim Tanken: "fill her up"), eine Konnotation von Romantik und Erotik kommt zum Vorschein. Ja, dieses Auto, das hier besungen wird, muss etwas Besonderes sein. Es ist ein Auto mit einem mächtigen Motor und mit einem Automatikgetriebe, das mit für einen anständigen Vorschub sorgt.

Ein Auto, das von Grund auf mit den eigenen Händen aufgebaut wurde. In und mit diesem Auto verdichtet sich in dem Song eine ganze Existenz, die, so erfährt es der Hörer, im Wesentlichen ihre Sinnhaftigkeit darin findet, von Stadt zu Stadt zu fahren, um sich Wettrennen mit anderen Autos zu liefern - gegen Geld. Während andere - und hier klingt zart Gesellschaftskritik an - längst ihr Leben "aufgegeben" haben, sich also in die vorgegebenen Strukturen "dieses Systems", der Gesellschaft angepasst haben und schon langsam anfangen zu sterben, Stück für Stück. Das meint zumindest der Sänger.

Doch dann ist da dieses Auto, das auf Sonny und seinen Kumpel wartet, und mit dem sich die beiden nach der Arbeit - also nach der (lästigen) "Pflichterfüllung" - auf Tour machen. Alleine schon der inhaltliche Anteil, der in dem Lied dem Auto, den Geschehnissen rund um das Auto und dem anderen Teil des Lebens der Protagonisten, den es offensichtlich auch noch gibt, zukommt, ist aufschlussreich. Der Gedanke wird verstärkt, dass der Chevy zum Lebensmittelpunkt dieser beiden Männer geworden ist.

Unklar bleibt, wie alt die "Protagonisten" des Songs sind, aber es kann vermutet werden, dass sie weder alt noch Führerscheinfrischlinge sind. Sie haben, davon darf man ausgehen, bereits Erfahrung mit dem Hamsterrad des Lebens gemacht, ihre nachdenklich vorgetragene Beobachtung, wonach andere sich in das Leben eingefügt und sich damit quasi aufgegeben haben, lässt zumindest auf eine Reife und Erfahrung schließen, die so bei einem 16, 17-Jährigen noch nicht vorhanden sein dürfte. Dass der 69er Chevy gerade im Sommer auf den Straßen im Nordosten des Bundesstaates unterwegs ist, zeigt: Es geht hier um eine Zeit, in der das Leben am meisten pulsiert. Es ist die Jahreszeit, die auch auf der symbolischen Ebene für die volle Entfaltung, die volle Kraft der menschlichen Existenz steht. Vielleicht sind die beiden Besungenen irgendwo zwischen 25 und 30 (und damit auch im Alter der beiden Unfallfahrer aus Berlin).

Deutlich aber wird: Das Auto ist in dem Song Zugang zum Leben. Nein, nicht zu jenem bereits erwähnten Leben, das Menschen ihrer Lebensgeister beraubt und sie langsam aber sicher sterben lässt - zumindest innerlich. Das Auto erlaubt es den beiden Protagonisten, inmitten dieser besonderen Jahreszeit, die über ihren eigenen Zauber verfügt, zu Darstellern eines Lebens zu werden, das sie selbst bestimmen - durch die überlegene Motorleistung ihres Wagens und ihr fahrerisches Können. Der Wagen bedeutet Anerkennung. Er bedeutet Sieg. Und ja, er ist auch ein Mittel, um das hübsche Mädchen aus dem Camaro für sich zu gewinnen.

Aber Springsteen wäre nicht Springsteen, wenn der Inhalt des Liedes sich an dieser Stelle erschöpfen würde. Wer dem Lied zuhört, stellt fest: Es geht hier nicht um einen Gute-Laune-Song. Die Melodie ist melancholisch und traurig zugleich. Ihr monotoner Rhythmus, der sich durch den gesamten Song zieht, lässt erahnen, dass sich die beiden jungen Männer längst auch im Fluss des Lebens befinden, in dem sie sich lediglich auf eine "individuellere" Art bewegen als andere.

Die "traurigen Momente", die in der Melodie mitschwingen, verweisen darauf, dass es da wohl auch eine Schattenseite des Racing in the Street gibt. Das "little baby", das nun bereits seit drei Jahren die Freundin des Fahrers ist, sitzt mit Tränenfalten auf der Treppe vor dem Haus. Jede Nacht weint sie sich in den Schlaf und die Sorge gilt ihrem Freund, von dem sie nie weiß, ob er es lebendig von den Rennen nach Hause schaffen wird. Seit drei Jahren erträgt sie diese Ungewissheit, denn zumindest ihr scheint sehr bewusst zu sein: Bei diesen Rennen fährt immer auch der Tod mit.

Die Auseinandersetzung mit dem Song ist auch ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft, der zielführend für unser Thema hier ist. Denn: Gerade in den USA weist das Auto seit frühen Zeiten eine besonders hohe symbolische Aufladung auf und ihr kultureller Einfluss auf andere Gesellschaften ist evident.

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