Raus aus dem geistigen Ghetto

Die deutsch-türkische Community und die aufgeheizten Debatten im Vorfeld des Referendums in der Türkei. Ein Meinungsbeitrag

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Die aufgeheizten Debatten im Vorfeld des Referendums in der Türkei haben einiges offenbart über die deutsch-türkische Community in Deutschland und den Zustand der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Es hat uns in ein "Wir und Ihr"-Lager zurückgeworfen. Inhalte und Argumente spielten in dieser Lagerbildung kaum eine Rolle.

Auf der einen Seite hat man Politiker und Medien, die sich bereits daran gestört fühlen, wenn Türkeistämmige sich mit Herz und Seele verbunden fühlen mit dem Land ihrer Eltern und Großeltern. Allein dies reicht schon aus, um eine wenig zielführende und hysterische Loyalitätsfrage zu stellen.

Entfremdung der Deutsch-Türken

Manche Akteure scheinen nicht nachvollziehen zu können, dass hier geborene und aufgewachsene junge Deutsch-Türken immer noch eine besondere Beziehung zur Türkei haben und ganz genau mitverfolgen, in welche Richtung sich das Land ihrer Vorfahren entwickelt. Die Politik in Deutschland hat es in der Vergangenheit versäumt, und versäumt es auch heute, diese jungen Leute mit Loyalitätsforderungen anzusprechen und ihnen auch das Gefühl zu geben, dass sie als politische Verantwortliche sich auch für diese Menschen einsetzen.

Deswegen ist es auch nicht nachvollziehbar, wenn eben jene Politiker sich darüber wundern, dass Erdogan mit seiner Rhetorik Anklang bei vielen Deutsch-Türken findet. Denn bei aller Kritik an seiner Politik kommt er mit seiner Rhetorik bei den hier lebenden Türken an. Das muss man zunächst einmal feststellen, ohne eine inhaltliche Bewertung.

Auch die mediale Debatte hat während den Diskussionen über das Verfassungsreferendum die Entfremdung der Deutsch-Türken verstärkt. Wir erleben momentan einen großen Frust bei vielen Deutsch-Türken über den Umgang deutscher Medien zu Türkei-Themen. Auch diesen Faktor darf man nicht einfach abtun mit der berechtigten kritischen Medienberichterstattung, sondern muss sich die Mühe machen zu fragen, was für einen Effekt die Art und Weise der Berichterstattung hier hat.

Stimmungsmache und ideologische Akteure

Die kritische Selbstreflektion fehlt allerdings nicht nur bei der deutschen Politik und den deutschen Medien, sondern mindestens im selben Ausmaß auch bei vielen Deutsch-Türken. Die Stimmungsmache innerhalb der deutsch-türkischen Community gegen das Land, in dem sie leben, hat Ausmaße erreicht, die uns noch in der nächsten Zeit sehr beschäftigen wird.

Wir haben ein Phänomen von Facebook-Bloggern mit immenser Reichweite, die sich von ihrer Rhetorik und aggressiven Sprache kaum von AfD, Pegida und Co unterscheiden. Sie hetzen gegen Deutschland, den Westen, die "Kreuzfahrernationen" mit einer derart martialischen Sprache, dass man sich die Frage stellt, was eigentlich ihre Intention ist? Agieren diese Brandstifter auf eigene Initiative oder werden diese Propagandisten unterstützt?

Fakt ist, dass sie eine enorme Reichweite unter den jungen Deutsch-Türken haben. Es ist ein übles Gemisch aus Nationalismus, Pseudo-Religion und eine Form von Rassismus, das da unters Volk gebracht wird. Und insbesondere die deutsch-türkische Community muss sich der Gefahr dieser ideologischen Akteure bewusst sein, denn sie erschweren das künftige Zusammenleben in unserer deutschen Gesellschaft.

Diesen Leuten geht es nicht um eine legitime Kritik an der deutschen Politik oder den deutschen Medien. Ihnen geht es darum, ein Feindbild zu kreieren und zu verbreiten.

Normalisieren der Situation

Unabhängig davon, wie das Ergebnis am 16. April 2017 nun sein wird, stehen wir in Deutschland vor einer großen Herausforderung. Sowohl die politisch Verantwortlichen in Deutschland, und die Medien, als auch die deutsch-türkische Community müssen sich die Frage stellen, wie man die Situation normalisiert.

Es führt kein Weg daran vorbei, das gemeinsame Gespräch zu suchen, sich die Sorgen der jeweils anderen Seite anzuhören und diese auch ernst zu nehmen. Und die Deutsch-Türken müssen sich die Frage stellen, ob sie sich auch in Zukunft treiben lassen wollen, sei es von Politikern aus Ankara, die wieder Populismus für ihre Wahlen betreiben wollen, oder von politischen Akteuren in Deutschland, die auf dem Rücken der Türken, Muslime etc. Politik betreiben, die darauf hinausläuft, die Gräben zu vertiefen statt zu überbrücken.

Neues Selbstbewusstsein und eine gewisse Emanzipation

Die Deutsch-Türken tun sich keinen Gefallen, wenn sie sich in ein geistiges Ghetto zurückziehen, auf Nationalismus setzen, nur noch Feinde überall wittern und somit die Ausgrenzung ihrer jungen Leute, die hier geboren und aufgewachsen sind, selber vorantreiben. Sie sind momentan auf dem besten Weg, jene Akteure zu bestätigen, die seit Jahren predigen, dass Türken oder Muslime nie ein Teil der deutschen Gesellschaft werden können.

Und das wollen auch manche Politiker aus Ankara. Denn auch sie sind sich bewusst, dass sie nur dann über die Deutsch-Türken jederzeit verfügen können, wenn sie mit nationalistischen Parolen erreichen, dass sie ein Randdasein in der deutschen Gesellschaft fristen.

Um als deutsch-türkische Community nicht zur Spielfigur politischer Interessen zu werden, brauchen wir ein neues Selbstbewusstsein und eine gewisse Emanzipation, um selber zu bestimmen, was uns wichtig ist, und uns dies eben nicht von der Politik diktieren zu lassen. Sei es nun die deutsche oder türkische Politik.