2,5 Millionen getürkte Stimmzettel?

Angeblich in Suruc gefundene Stimmzettel, die zerrissen und weggeworfen worden waren.

Die Opposition kämpft um Annullierung der Abstimmung und erhält Rückendeckung von der Europäischen Kommission

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Die Kontroversen um Manipulationen beim türkischen Referendum vom vergangenen Sonntag setzen sich fort. Die beiden Oppositionsparteien CHP und HDP haben bei der Wahlkommission YSK in Ankara Beschwerde eingelegt und fordern die Annullierung. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu bezeichnet die Wahlfälschungen, bei denen es um mindestens 2,5 Millionen Stimmen gehen soll, als "Putsch". Die Partei droht mit dem Rückzug aus dem Parlament.

Da die Differenz zwischen Ja- und Nein-Stimmen bei nur rund 1,3 Millionen liegt wäre das eine wahlentscheidende Anzahl. Auch die Europäische Kommission fordert die türkische Regierung auf, die Vorwürfe "transparent zu untersuchen". Die Kommission befürchtet laut Reuters, dass sich "in der Türkei ein semi-autoritäres System unter einer Ein-Mann-Herrschaft" entwickelt. Daher könne man Erdogan auch nicht zum Abstimmungsergebnis gratulieren.

Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu zitiert derweil den AKP-Abgeordneten Ahmet Berat Conkar, der die Vorwürfe der Wahlbeobachter der OECD als haltlos zurückweist. Europa-Minister Ömer Çelik erklärte gegenüber dem Europarat, man akzeptiere "politische Erpressung" nicht.

Am Dienstag demonstrierten zehntausende Menschen in mehreren türkischen Städten, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Im Istanbuler Bezirk Besiktas, der zu über achtzig Prozent mit Nein gestimmt hatte, fanden Razzien statt. 38 Demonstranten wurden festgenommen, darunter auch der Bezirksvorstand der kleinen Partei ÖDP. Laut BirGün wird ihnen "Provokation der Öffentlichkeit" vorgeworfen. Zwanzig weitere Personen wurden demnach in Antalya festgenommen.

Vor der Gebäude der YSK bildete sich im Laufe des Tages eine lange Schlange. Hunderte Bürger wollten Beschwerde einlegen. Ein ähnliches Bild zeigte sich am Eingang des Justizpalastes in Istanbul. Als Reaktion auf die Beschwerdeflut verkürzte die YSK kurzerhand die Einspruchsfrist. Ab Mittwoch wurden keine Einsprüche mehr angenommen, YSK-Chef Sadi Güven sicherte aber erneut eine Prüfung zu. Derweil wird Stück für Stück das Ausmaß der Eingriffe in die Abstimmung sichtbar.

Laut der zivilen Initiative Hayir ve Ötesi soll es in 961 Wahllokalen keine einzige Nein-Stimme bei der Auszählung gegeben haben. Die HDP-Abgeordnete Pervin Buldan postete auf Twitter ein Foto von zerrissenen Nein-Stimmen, die auf einer Baustelle gefunden worden sein sollen.

Zudem tauchen mehr und mehr auch Videoaufnahmen auf, die offene Manipulation in Wahllokalen zeigen sollen. Zum Beispiel werfen einzelne Personen gleich mehrere Wahlzettel in die Urne. Hinzu kommt, dass vor allem in den kurdischen Regionen im türkischen Südosten mehrere hunderttausend Menschen aufgrund des Ausnahmezustandes gar nicht zur Wahl zugelassen waren; in einigen Wahllokalen sollen die von der AKP eingesetzten bewaffneten Dorfschützer Druck auf die Wähler ausgeübt haben.

Die Stimmung im Land ist aufgeheizt. Die Massenverhaftungen von Oppositionellen gehen derweil ungemindert weiter, auch wenn sie für kurze Zeit aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden, weil alles sich auf die Abstimmungs-Kontroverse konzentriert. Die Opposition kämpft, die AKP weist wie üblich jede Schuld von sich. Das letzte Wort wird die YSK haben. Dass sie die Abstimmung tatsächlich annulliert, gilt aber als unwahrscheinlich. Gestern stimmte das Parlament einer Verlängerung des Ausnahmezustands zu.