Giftgasangriff in Chan Scheichun: Das Ziel ist die Delegitimierung Assads

Chan Scheichun: Mann an der Stelle, wo das Giftgas dem Weißen Haus gemäß entwichen sein soll. Laut Sonnenstand zu einer lebensgefährlichen Zeit. Foto aus dem Bericht von Theodore A. Postol

Die Kluft zwischen der politischen Wahrheitsfindung und der sachgemäßen Auseinandersetzung: Erkenntnisse der OCPW, der IDF, europäischer Außenminister und eine Demontage des Berichts des Weißen Hauses

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Es war Sarin oder zumindest eine dem Sarin ähnliche Substanz, lautet die Erkenntnis der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OCPW) zum Chemiewaffen-Angriff in Chan Scheichun am 4.April.

Die Ergebnisse, die man bislang erhalten habe, seien "unanfechtbar", teilte der Direktor der Organisation, Ahmet Üzümcü, aus Den Haag mit. Analysiert wurden in zwei Laboren drei Proben ("bio-medical samples"), die von Opfern des Angriffs bei einer Autopsie entnommen worden waren, sowie in zwei weiteren Laboren Proben von sieben Personen, die in ein Krankenhaus eingeliefert worden waren.

Die Fact-Finding-Mission (FFM) werde ihre Arbeit mit Interviews, "Evidence Management" und dem Sammeln von Proben fortsetzen, so Generaldirektor Üzümcü, der betonte, dass das FFM-Team bereit dazu ist, nach Chan Scheichun zu reisen, um Ermittlungen an Ort und Stelle durchzuführen, sobald es die Sicherheitslage erlaube.

"Er hat alle Legitimität verloren"

Wann dies der Fall sein wird, bleibt offen. Indessen übernimmt politisches "Evidence Management" die Hauptrolle. Gestern erhielt die Öffentlichkeit mehrere Kostproben. Ein Offizier der IDF fasste gegenüber Medien den Stand der Dinge, wie ihn Medien und Politiker seit Anfang April vermitteln, nochmals zusammen "Es ist kaum vorstellbar, dass Assad nicht im Vorhinein über den Angriff Bescheid wusste, der Preis, den er dafür bezahlt hat, ist hart. Er hat alle Legitimität verloren."

Ähnlich wie das Ergebnis des OPCW - "Es könnte auch eine Sarin ähnliche Substanz sein" - trägt auch diese selbstgewiss vorgebrachte Äußerung die Möglichkeit in sich, dass es etwas anders sein könnte - aber das sei "schwer vorstellbar": "difficult to believe" (Ha'aretz) oder "hard to imagine" (Jerusalem Post).

Unanfechtbar ist an den Äußerungen des IDF-Offiziers die politische Absicht, die mit dieser Sichtweise der Ereignisse vom 4.April verbunden ist: Assads Legitimität zu untergraben.

IDF: Assad soll bis zu drei Tonnen an Chemiewaffen haben

Dazu bringt der Offizier, dessen Name aufgrund militärischer Regeln ebenso wenig genannt wird wie die Namen der beiden anderen IDF-Offiziere, die seine Aussagen bestätigen noch einen weiteren belastenden Vorwurf an die Öffentlichkeit: Assad könnte trotz der russisch-amerikanischen Vereinbarung zur Vernichtung sämtlicher Vorräte an chemischen Waffen und dem Abbau der Infrastruktur zur Produktion solcher Waffen weiterhin "bis zu drei Tonnen" an chemischen Waffen lagern.

Ein Beweis für diese Aussage wird nicht geliefert. Dafür teilt der Offizier den Medienvertretern mit, warum das "Assad-Regime den Sarin-Angriff in Chan Scheichun begangen hat": aus Frustration. Weil die Regierungstruppen trotz der russischen Hilfe, der iranischen und der Hilfe von der Hisbollah keine relevanten Vorstöße auf den Kampffeldern mache.

Ayrault drückt eine Überzeugung aus

Auch aus Paris und London kamen gestern Äußerungen zum mutmaßlichen Gasangriff. Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault gab seine Überzeugung bekannt, dass Baschar al-Assad dafür verantwortlich ist. Es sei nur eine Frage von einigen Tagen, bis man einen Nachweis dafür vorlegen werde, dass "das Regime den Angriff mit Chemiewaffen organisiert hat. Ich drücke hier eine Überzeugung aus", sagte der Außenminister in der Sendung "Question d’info".

In Frankreich wird am Sonntag gewählt. Das dürfte die Aussage, die ohne jeden Hinweis zur Begründung der Überzeugung auskommt, motivieren, das Schreckgespenst vom rechtsnationalen FN, Marine Le Pen, hat bekanntlich eine andere Auffassung zu Putin und dessen Protegé Assad als die Regierungspartei.

Johnson: Das Monster enthaupten

In London erklärte der britische Außenminister Boris Johnson Parlamentsabgeordneten, wie man Baschar al-Assad für den Einsatz chemischer Waffen bestrafen könne, ohne ein islamistisches Regime an dessen Stelle zu rücken:

Das Wichtigste wird ein politischer Prozess sein, der die Institutionen des syrischen Staates erhält, während man das Monster enthauptet.

Boris Johnson

Die Pläne für ein "Syrien nach Assad" scheinen, um im Jargon der Evidenz-Vermutungen zu bleiben, noch nicht sehr weit gediehen. Gut möglich ist, dass es der US-Regierung und ihren Verbündeten Israel, Frankreich, Großbritannien, in erster Linie gar nicht um einen Regime-Wechsel in Damaskus geht, sondern vor allem um deren deutliche Schwächung, um eigene Interessen in Syrien zu legitimieren und durchzusetzen - nach dem Motto, dass dem gnadenlosen Tyrann in seinem eigenen Land Grenzen nicht nur gezeigt, sondern auch gesetzt werden müssen.

So gesehen steht der Tomahawk-Angriff, den Trump als Vergeltung für den mutmaßlichen Giftgasangriff wenige Tage später befahl, nicht im Widerspruch zu den Äußerungen der USA und der EU vor dem Ereignis in Chan Scheichun, wonach man die Absetzung von Baschar al-Assad an der Spitze der syrischen Regierung nicht mehr als oberstes Ziel verfolge.

Das Spiel mit den Dschihadisten

Man bereitet ihm stattdessen so viele Schwierigkeiten wie möglich, damit er sein Ziel, ganz Syrien zurückzuerobern, nicht verfolgen kann. Dass der IS durch den US-Raketen-Angriff auf den syrischen Militärflughafen, wenigstens kurzzeitig Vorteile hatte, muss nicht beabsichtigt sein, aber es ist wahrscheinlich kein Grund zum Ärgern im Pentagon und bei den US-Bündnis-Partnern gewesen.

Der Verdacht ist, dass die Regierung Trump fortsetzt, was die Regierung Obama praktizierte und auch eingestand: die Dschihadisten, sei es der IS oder die al-Qaida-Allianz an dem einen oder anderen Ort schonen ("nicht prioritär"), um damit die syrischen Truppen beschäftigt zu halten. Fakt ist, dass die USA im Nordosten Syriens sich eine Präsenz und einen Einfluss aufgebaut haben, den sie früher nicht hatten und den sie weiter ausbauen wollen: Interessant wird zum Beispiel sein, was sich im Süden, an der syrisch-jordanischen Grenze entwickeln wird.

Die politische Wahrheit ist, was den Chemieangriff in Chan Scheichun betrifft, wichtiger als die sachgemäße. Ob die Fact-Finding-Mission der OCPW jemals in dem Ort eintrifft und die Sache aufklärt?