Angst vor einem zweiten Gezi?

Nach dem manipulierten Referendum nimmt die Repression gegen Oppositionelle in der Türkei wieder zu

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Abend für Abend ist es seit dem Referendum vom vergangenen Sonntag dasselbe Bild in der Türkei: In mittlerweile mehr als zwanzig Städten demonstrieren zehntausende Bürger gegen die Manipulationen. Noch am Mittwoch hatte die oberste Wahlkommission YSK sämtliche Beschwerden, auch jene der Oppositionsparteien CHP und HDP, abgeschmettert und das Endergebnis für gültig erklärt. Und das obwohl mindestens 2,5 Millionen Stimmen gefälscht sein sollen, wie die türkische Opposition übereinstimmend mit der Wahlbeobachterin Alev Korun sagt.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan will davon nichts hören. Die Wahlbeobachter der OSZE bezeichnete er als "Terroristen" - wie so ziemlich jeden, der es wagt, ihn zu kritisieren. Der Anwaltsverband von Izmir und Istanbul hat inzwischen Strafanzeige gegen die YSK gestellt.

Die Demonstranten in den Städten rekrutieren sich, wie schon zu Beginn des Gezi-Aufstands im Sommer 2013, vorwiegend aus der gebildeten urbanen Mittelschicht. Das scheint Erdogan nervös zu machen. Und die Polizei ändert offenbar ihre Taktik. Denn bislang gab es kaum größere Angriffe auf die Demonstrationen selbst. Statt auf Wasserwerfer, Tränengas und Gewalt zu setzen, versucht man, mit Razzien und Festnahmen die Organisatoren der Demos aus dem Verkehr zu ziehen.

In Istanbul, Izmir und Ankara wurden die Festnahmen, wie Dihaber berichtet, damit begründet, dass man Gezi-ähnliche Zustände verhindern wolle. Den Festgenommenen wird Aufwiegelung der Öffentlichkeit vorgeworfen. Unter ihnen sind auch Mitglieder der Haziran-Bewegung, die aus den Gezi-Protesten hervorgegangen ist.

Und auch die Medien geraten wieder in die Schusslinie. Das Nachrichtenportal Sendika.org war vor dem Referendum in der Türkei gesperrt worden, hatte dann aber in den letzten Tagen intensiv über die Wahlfälschungen berichtet. Am Donnerstagmorgen fand in den Istanbuler Redaktionsräumen eine Razzia statt, der Chefredakteur Ali Ergin Demirhan wurde festgenommen. Man wirft ihm vor, das Ergebnis des Referendums öffentlich nicht anerkannt und zu Protest aufgerufen zu haben. In Mardin wurde außerdem die DIHA-Journalistin Melten Oktay festgenommen, wie üblich wegen "Terrorpropaganda".

Die Zahl der seit dem Putschversuch inhaftierten Journalisten liegt inzwischen bei rund 170. Seit neun Tagen ist außerdem der italienische Journalist Gabriele Del Grande in Haft. Der Fall wird inzwischen mit dem von Welt-Korrespondent Deniz Yücel verglichen. Del Grande hat allerdings im Gegensatz zu Yücel keinen türkischen Pass. Bei seiner Festnahme hieß es erst, er solle des Landes verwiesen werden. Nun sieht es so aus, als wollten die türkischen Behörden klarstellen, dass auch eine ausländische Staatsangehörigkeit nicht vor Inhaftierung schützt, was den Druck auf sämtliche ausländische Pressevertreter im Land erhöht.