Kann Masse negativ sein?

Bild: NASA / CC BY 3.0

Forscher haben im Labor etwas erzeugt, das sie "negative Masse" nennen - aber die Versuchsanlage ist trotzdem kein Mikrogramm leichter geworden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Oft sind die einfachsten Dinge am schwersten zu erklären. Die Masse etwa: jeder Mensch hat ein intuitives Verständnis davon. "Was ist schwerer, ein Kilo Federn oder ein Kilo Blei?" Auf diese Scherzfrage fallen nur Vorschulkinder herein. Und doch ist ausgerechnet das Konzept der Masse bisher von den Physikern nur grob verstanden. Die elektrische Ladung hat es uns da viel leichter gemacht. Immerhin wissen wir seit Entdeckung und Nachweis des Higgs-Mechanismus, wie Masse entsteht. Aber könnte es so etwas wie eine negative Masse geben?

Wenn wir einen Blick ins Universum werfen, dessen Verhalten analysieren und versuchen, es mit dem aktuellen Stand unseres Wissens zu erklären, dann lautet die Antwort: Es muss negative Masse geben. Denn die sich beschleunigende Ausdehnung des Alls führen wir auf "Dunkle Energie" zurück, ein mysteriöses Feld mit negativer Energiedichte, dem über die Einstein-Formel auch eine negative Massedichte zuzuordnen sein muss.

Es müsste also "Dinge" geben, bei denen die Masse in Kilogramm einen negativen Wert annimmt. Mehr, als dass es "Dinge" sind, lässt sich derzeit allerdings nicht sagen. Immerhin können wir jetzt schon überlegen, wie sich eine solche negative Masse verhalten würde, auch in Bezug auf positive Masse. Die gute Nachricht: Beide würden sich wohl ganz gut vertragen, denn mit der Materie-Antimaterie-Dualität hat das nichts zu tun. Antimaterie hat eine positive Masse!

"Runaway-Bewegung"

Aus den Einstein-Gleichungen ergibt sich immerhin, dass positive Masse andere positive Masse, aber auch negative Masse anzieht. Negative Masse hingegen stößt sowohl jede andere negative Masse als auch positive Masse ab. Das führt dazu, dass zwei gleich große Massen mit unterschiedlichem Vorzeichen eine konstante Beschleunigung des Gesamtsystems in Richtung der positiven Masse erzeugen würden.

Das System würde ohne jeglichen äußeren Einfluss immer schneller und schneller, hätte jedoch den konstanten Gesamtimpuls von 0 und würde damit keinen der Erhaltungssätze verletzen ("Runaway-Bewegung"). In einem Gas, das aus Teilchen negativer und positiver Masse besteht, würde der positive Anteil seine Temperatur bis ins Unendliche erhöhen, der negative Anteil jedoch müsste negative Temperaturen erreichen.

Besonders kompliziert wird es, wenn sich zwei gleiche Massen mit unterschiedlichem Vorzeichen und verschiedenem Impuls begegnen, es also zu einer Kollision kommt. Befinden sie sich an einem Ort, müssten sie sich gegenseitig auslöschen, ohne dass Masse (und damit Energie) übrig bliebe. Doch damit wäre die Impulserhaltung verletzt.

Massen mit verschiedenem Vorzeichen können dadurch nur in Form der Runaway-Bewegung koexistieren, was zu der Annahme verleitet, dass es dann eben doch keine negative Masse geben kann. Aber was sagt die Expansion des Universums dazu?

Träge Masse im Modellsystem

Es ist kompliziert, so viel ist klar. Die Natur der Dunklen Energie ist noch völlig ungeklärt, sie im Labor zu erzeugen, um daran forschen zu können, scheint derzeit utopisch. Darum wäre es als zweitbeste Alternative natürlich schön, mit Systemen abeiten zu können, die sich so verhalten, als hätten sie eine negative Masse.

Bei anderen physikalischen Größen ist das ja gang und gäbe. So erforschen Astronauten an Bord der ISS die Auswirkungen von Mikro-Gravitation, obwohl sie so dicht an der Erde von unserem Planeten nur wenig schwächer als auf dessen Oberfläche angezogen werden. Sie spüren die - vorhandene - Gravitation nur nicht, weil sie sich zusammen mit der Raumstation im freien Fall befinden. Gäbe es hier wirklich keine Erdanziehung, würde die ISS ins Weltall hinaus trudeln.

Ein ähnliches Modellsystem haben jetzt Forscher von der Washington State University im Labor erzeugt. Ihr Paper wurde in den Physical Review Letters veröffentlicht, ist aber auch auf arxiv.org verfügbar. Sie zielen damit auf den Aspekt der Masse ab, den man als träge Masse bezeichnet - also die Masse als Proportionalitätsfaktor zwischen Kraft und Beschleunigung.

Normalerweise haben in der Newton-Formel F = m * a die Kraft F und die Beschleunigung a dieselbe Richtung. Eine negative Masse führt hier nachvollziehbarerweise dazu, dass sich die Beschleunigung umkehrt. Wenn Sie eine Billard-Kugel negativer Masse anstoßen, würde diese sich also genau entgegengesetzt zur Richtung Ihres Stoßes bewegen.