Frankreich: Öffnung oder nationaler Rückzug?

Wer steht diesmal auf den Stufen neben Hollande? Letzte Amtsübergabe, Mai 2012. Bild: Cyclotron / CC BY-SA 3

Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl könnte der Sieger schon so gut wie feststehen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am heutigen Sonntag geht es in die erste Runde der Präsidentschaftswahlen. Es ist die "Wahl der Wahlen", hört man in Frankreich. Auch international findet die Abstimmung große Beachtung; Unternehmen und Investoren seien unruhig, berichtet die FAZ, mit Bangen würden sie auf den heutigen Wahltag blicken.

Unsicherheit sei die einzig "sichere Wette", heißt es von der anderen Seite des Atlantiks. Diese Wahl gehöre zu den folgenreichsten in der jüngsten Zeit, nicht nur für Frankreich, sondern für Europa und sie sei "one of the most unpredictable", so die New York Times. Das ist etwas ungenau.

Die Präsidentschaftswahl steht in der Reihe der Brexit-Abstimmung, der US-Präsidentschaftswahl und der Wahlen in den Niederlanden - und diese Stimmabgaben waren allesamt, mit Ausnahme vielleicht der letzten, schwer oder gar nicht vorauszusehen, soweit es Umfragen betraf.

Was die Stimmabgaben zu einer Serie macht, ist die Frage der grundsätzlichen politischen Ausrichtung nach außen. Am deutlichsten steht dafür die Brexit-Abstimmung. "Öffnung oder nationaler Rückzug", lautete die Weichenstellung dazu im französischen Wahlkampf. Die beiden Pole werden am deutlichsten von Emmanuel Macron und Marine Le Pen markiert.

"Die nützliche Stimme"

Beide liegen in der letzten veröffentlichten Umfrage der Tribune de Genève (in Frankreich darf kurz vor der Wahl keine Umfrage mehr veröffentlicht werden) vom Samstag weiter Kopf an Kopf an der Spitze.

Macron führt mit 24 Prozent, nur einen Prozentpunkt dahinter kommt Le Pen mit 23 Prozent, an dritter Stelle liegt Fillon mit 20,5%, mit geringem Abstand folgt ihm Mélenchon mit 18,5 Prozent, abgeschlagen auf Platz fünf der großen Kandidaten findet sich der Kandidat des linken Flügels der regierenden Sozialdemokraten Benoît Hamon mit 7 Prozent.

Das gibt einige Hinweise. Etwa dass der Terrorakt auf den Champs-Elysées am Donnerstagabend Marine Le Pen laut der Schweizer Zeitung anscheinend ein Plus zugetragen haben könnte, aber kein entscheidendes. Der wichtigere Hinweis liegt aber in der beinahe aussichtlosen Positionierung Hamons.

Hier kommt ins Spiel, was auch in deutschen Medien zuletzt öfter erwähnt wurde: le vote utile, wörtlich übersetzt: "die nützliche Stimme", frei übersetzt und auf die konkrete Situation bezogen: Man wählt nicht den Kandidaten, der den eigenen politischen Überzeugungen am nächsten steht, sondern denjenigen, der die besten Aussichten hat, damit Le Pen verhindert wird. Hamon fällt raus, er hat kaum Chancen, in die Stichwahl zu kommen.

Das bedeutet für die linken Wähler, dass sie sich zwischen Mélenchon und Macron entscheiden müssen - oder das große Risiko eingehen, dass ihre Stimme für Hamon verloren geht. Gegen ihn spricht auch das schlechte Bild, dass die PS-Regierung unter Hollande abgab. Auch wenn der Kandidat aus den Reihen des linken Flügels kommt, der dem Zentrum der Partei bei umstrittenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen Kontra gab, die Regierung Hollande färbt auf seine Aussichten ab.

Viele aus dem unternehmerfreundlichen Lager des PS stellen sich hinter Macron. Sollte es Macron im ersten Wahlgang gelingen, Marine Le Pen deutlich hinter sich zu lassen, was hieße, dass viele Links-Mitte-Wähler sich für den vote utile zugunsten Macrons entschieden haben, würde er damit - auch wenn er keine absolute Mehrheit erhält - so gut wie sicher als Sieger der Stichwahl feststehen.

Weil das Rennen so knapp ist, könnte es dieses Mal anders sein, dass nämlich die Wähler schon beim ersten Durchgang strategisch wählen und nicht nach "ihrem Herzen", schreibt die New York Times, in Gesprächen mit Franzosen wird dieser transatlantische Befund bestätigt. Heute Abend könnte der Sieger feststehen. Ob das dann auch für Marine Le Pen gilt, wenn sie weit über "ihren Sockel" hinaus 40 Prozent schafft?

Schreckensszenario und Unsicherheit

Traditionell würde Le Pen dann im zweiten Wahlgang einer großen Mobilisierung gegenüberstehen, die mit Befürchtungen vor einem radikalen Wechsel argumentiert und auch das liberale rechte Zentrum auf die Seite des Gegenkandidaten ziehen würde.

Die Medien der Mitte hatten in den letzten beiden Wochen immer wieder ein Schreckensszenario aufgezeichnet: eine Stichwahl zwischen Mélenchon und Le Pen. Hier hätte Le Pen wohl die meisten Chancen. Ausgeschlossen ist diese Konstellation nicht. Auch nicht, dass sich Le Pen und Fillon in der zweiten Runde gegenüberstehen.

Die Unsicherheit über das Abstimmungsverhalten der Wähler ist so groß wie selten zuvor. Nicht ganz ein Drittel ist laut Umfragen noch unsicher. Die Zahlen differieren. Laut Le Monde rechnet man mit einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent.