Das "Soziale" - etwas Licht, viel Schatten

Bild: Karl Kollmann

Zygmunt Bauman und die Begriffe Freund, Feind, Fremder, sowie einige Worte zur harten Realität von Sozialstruktur

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Betrachtet man die aktuelle Diskussion zum US-amerikanischen Präsidenten oder die schon länger anhaltende zum europäischen Flüchtlings- bzw. Migrationsthema aus etwas atemholender Distanz, so wird deutlich, wie kläglich die Bildung in Gemeinschaftskunde (Sozialkunde oder wie immer die Unterrichtsfächer heißen) versagt hat. Der Anfang des Jahres verstorbene linke Groß-Soziologe (was respektvoll gemeint ist) Zygmunt Bauman hat die entscheidenden Faltungen der Sozialstruktur schon vor Jahren eingängig und ausführlich beschrieben und da war er nicht der erste. Angekommen ist in den Köpfen der Menschen von seiner Perspektive und von sozialwissenschaftlichen Erfahrungen wenig bis nichts. Die meisten Menschen können heute nur schwer mit dem "Sozialen" differenziert und verständig umgehen.

Natürlich sind wir von guten und von weniger guten Mitmenschen umgeben: Nette, hilfsbereite freundliche Autofahrer gibt es, jedoch ebenso die mürrische Rentnerin, die einem grundlos ihren Gehstock in den Rücken rammt, den dauerintriganten Kollegen, gegen den letztlich nur die Kündigung hilft, oder den jungen Außenseiter, der grundlos zuschlägt. Der Satz hätte wohl schon an der Grenze politischer Korrektheit geschrammt, wäre da von einem Asozialen die Rede gewesen. Der grundlos Zuschlagende - so die heutige medial vermittelte "Erzählung" - hat ja doch an sich keinen schlechten Charakter, in Wahrheit ist er eh ganz lieb und findet halt nur zu wenig Anerkennung und wer das nicht so abgeklärt und romantisch sieht, ist schnell als Rassist und Hetzer gelabelt.

Das Opfer des Schlägers wird eine solche humanistische Erzählung eher als rücksichtslos oder als pathologisch empfinden. Allerdings, das muss man nun ebenfalls zur Kenntnis nehmen: Wir leben "in der modernen Welt mit ihrem Glauben an die Allmacht der Kultur und Erziehung"1, das heißt, der Mensch ist das Produkt seiner Bildung, so das gängige Dogma postmoderner Gesellschaft, dazu sind Vielfalt und Diversität zumindest verbal gern gesehen. Das entspricht ganz gut dem neoliberalen Verständnis: jeder Einzelne ist für seinen Erfolg selbst verantwortlich, bestenfalls darf er noch die Eltern in eine Mitverantwortung nehmen.

Liebe und Destruktion

Allerdings, wer sich ernsthaft mit Menschen beschäftigen will, sollte sich von der Gläubigkeit an das allgemein Gute verabschieden und ein wenig die Erinnerung an Klassiker wie Freud oder Marcuse pflegen. Für diese gehört Liebe genauso wie Aggression konstitutiv zum Menschsein, und es ist nur das unnachgiebige Regime der Zivilisation, der Gemeinschaft, der Gesellschaft, die das Destruktive in uns halbwegs bändigt. Alles andere ist eigentlich Kinderkram, Religionsunterricht oder Sozialromantik.

Dazu gehört auch die Illusion, man könne oder solle völlig unvoreingenommen den Anderen "begegnen". Das geht gar nicht - seit vielen tausend Jahren haben wir gelernt, Situationen oder Menschen blitzschnell und gleichsam automatisiert, aus unseren Erfahrungen heraus, zu typisieren (Persönlichkeit, Charakter) und sie sozial zu verorten (Milieu, Integriertheit). In manchen Fällen kann das schiefgehen, in vielen Fällen war das vorteilhaft oder gar Überlebensbasis. Und, der erste Eindruck lässt sich später oft noch korrigieren.

Manche, die das Glück haben, am Land aufgewachsen zu sein, kennen es aus eigener Erfahrung. Zieht eine Familie aus der Großstadt in das Dorf hinaus, da sie sich hier des Kindes und der guten Luft wegen ein Haus gekauft haben, erleben diese Zuzügler lange Misstrauen, Ablehnung und Argwohn. Die Einheimischen mögen sie nicht, obschon aus gleichem Bundesland und mit gleicher Sprache, Staatsbürgerschaft und Kultur ausgestattet. Sie sind an sich unerwünscht und es dauert Jahre mühsamer Assimilation, bis die Ablehnung geschwunden ist, aber selbst noch viele Jahre später, beim Begräbnis am Dorffriedhof bleibt man der Zugezogene. In der Großstadt ist das etwas anders, dazu später.

Der Fremde

Solche alltäglichen Erfahrungen streift Bauman, konzentriert seine Analysen aber auf den sozusagen echten, den aus einer anderen Kultur, einem anderen Land kommenden Fremden. Dieser steht plötzlich da und will bleiben. Anders als ein Gast bzw. Tourist, will er sich ohne Einladung festsetzen. Das ist eine unliebsame Erfahrung für die Einheimischen und verletzt selbstverständlich deren Selbstbestimmungsrecht. Paradigmatisch für Bauman ist dabei der europäische, vor allem der osteuropäische Jude in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg (das ist auch er selber, er hat ja reichlich persönliche Erfahrungen aus seinem Leben in Polen, dem Exil in Israel, später in Großbritannien - seine Geheimdienstarbeit bleibt übrigens stets ausgespart).

Mit eindrucksvoller Sprache beschreibt er die Lage dieses Fremden, immer erinnert es an die vorhin erwähnten ins Dorf Zugezogenen, der Makel der Herkunft bleibt untilgbar. Georg Simmel, hat bereits 1908 diesen Fremden2 aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht skizziert. Auch hier ist er paradigmatisch Jude und Kaufmann. Bei beiden Autoren bleibt die soziale Struktur von Freundschaft und Feindschaft allerdings weitgehend ausgespart, nur der Fremde ist obsessiv im Fokus.