Das Nichts in der Mathematik

Obwohl wir heute bereits in der Schule mit der leeren Menge konfrontiert werden, war ihre Definition und ihr Platz in der Mathematik und Philosophie über Jahrhunderte umstritten

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Es war im Jahr 1939, am Vorabend des zweiten Weltkrieges, als ein mathematischer Begriff so etwas wie die Volljährigkeit und seinen endgültigen Namen erlangte: Es handelt sich um die leere Menge, dargestellt mit Ø, Buchstabe des dänischen und norwegischen Alphabets. Das neue Symbol wurde mit einem Schlag zur Standardnotation in der Mengenlehre.

Der Vorschlag dazu kam von André Weil (1906-1998), Wissenschaftler aus Straßburg und einem der wichtigsten Mitglieder der Bourbaki-Gruppe, einer Verbindung von gleichgesinnten französischen Mathematikern, die die Aufgabe auf sich nahm, die gesamte Mathematik neu und unerbittlich streng zu formulieren. Gleich im ersten Buch über Analysis, bei der Einführung der Mengenlehre1, wird Ø als der leere Anteil einer Menge definiert, um die Mengennotation "ein für allemal festzulegen".2 Generationen von Studenten an den Universitäten haben seitdem auf verlorenen Posten einen schleichenden Kampf gegen die Trockenheit und Strenge der allzu vielen Bourbaki-Bände geführt.

Im 21. Jahrhundert mutet das alles wie ferne Vergangenheit. Und dennoch: Obwohl wir heute bereits in der Schule mit der leeren Menge konfrontiert werden, war ihre Definition und ihr Platz in der Mathematik und Philosophie über Jahrhunderte umstritten. Nichts ist komplizierter als das Nichts, zumindest aus der Sicht der Philosophie.

Wenn wir über Zahlen sprechen, brauchen wir eine Anfangszahl wie die 1. Durch sukzessive Erhöhung um eine Einheit schreiten wir zu 2, 3, 4 usw. fort. Die Anfangszahl kann beliebig sein, man hätte auch z.B. mit Null anfangen können. Aber die Null als Symbol stand nicht allen Kulturen zur Verfügung. In der römischen Notation für Zahlen gibt es kein Zeichen dafür und so nummerieren wir die Jahre seit Christi Geburt ab dem Jahr Eins. Erst bei der Verbreitung der positionellen Systeme gab es die Notwendigkeit, auch mit der Null symbolisch zu operieren.

Aber zurück zur Mengenlehre. Wenn Mengen von Objekten behandelt werden, gibt es zwei grundsätzliche Wege, um sie zu bilden. Es gibt den prädikativen Weg, wo wir einfach sprachlich festlegen, welche Elemente eine Menge enthält (wie z.B., wenn wir sagen, "sei T die Menge aller Telepolis-Leser"), oder den konstruktiven Weg, bei dem neue Mengen aus gegebenen Mengen hergestellt werden. Historisch gesehen wurde zuerst der prädikative Weg eingeschlagen und im neunzehnten Jahrhundert zur Reife gebracht - aber dann geschah etwas Furchtbares: Das Russell-Paradoxon betrat die mathematische Bühne.

Im Paradoxon wird die Menge M aller Mengen, die sich selber nicht enthalten, erforscht. Die Definition von M wäre, sprachlich gesehen, eine völlig legitime Sache. Dann wird aber gefragt, ob diese Menge M auch Element von sich selbst ist. Wäre es so, hätten wir einen Widerspruch, da M als Element von M sich selbst nicht enthalten darf. Ist aber M nicht Element von sich selbst, erfüllt es die Bedingung, um Element von M zu sein - wieder ein Widerspruch und damit eine Inkonsistenz in der Wissenschaft der abstrakten Strukturen.

Der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell hat mit seinem Paradoxon 1901 der heute sogenannten "naiven Mengenlehre" den Todesstoß versetzt. Der deutsche Theoretiker Ernest Zermelo hatte zwar ein Jahr zuvor die Inkonsistenz entdeckt, und Georg Cantor in Halle noch viel früher, aber beide waren umsichtig genug, den Mund zu halten, bis eine Erlösung für das System gefunden werden konnte.

Das Problem ist hier eigentlich, dass wir mit der Sprache viel zu viel Terrain abdecken und z.B. über Mengen reden können, die sich selbst verspeisen, wie Ouroboros, die ägyptische Schlange, die sich am Schwanz beißt. Es ist auch wie beim Paradoxon vom Barbier, der alle Menschen im Dorf, die sich selbst die Haare nicht schneiden, die Haare schneidet. Der arme Barbier weiß dann nicht, ob er sich selbst die Haare schneiden darf oder nicht.

Aber niemand war von Russells Entdeckung getrübter als der Vater der deutschen Logik, Gottlob Frege, der gerade sein Buch "Die Grundgesetze der Arithmetik" für die zweite Ausgabe von 1903 vorbereitete, als Russell ihm vom Widerspruch in seinem Buch berichtete. Frege schrieb an Russell:

Ihre Entdeckung des Widerspruchs hat mich aufs Höchste überrascht und, fast möchte ich sagen, bestürzt, weil dadurch der Grund, auf dem ich die Arithmetik ... aufzubauen dachte, ins Wanken gerät. (...) Ich muß noch weiter über die Sache nachdenken. Sie ist umso ernster, als mit dem Wegfall meines Gesetzes V nicht nur die Grundlage meiner Arithmetik, sondern die einzig mögliche Grundlage der Arithmetik überhaupt zu versinken scheint.

Frege an Russell, 22. 6. 1902.

George Boole und die erste leere Menge

Obwohl also die Mathematiker über Jahrhunderte hinweg implizit mit Mengen von Objekten operiert haben, gab es dafür bis tief ins neunzehnte Jahrhundert keine echte theoretische Formalisierung. Frege selbst war in gewissem Sinne nur ein Vordenker, da er die logische Sprache schuf, mit der man ab dann mathematisch sauber arbeiten konnte (die sogenannte Prädikatenlogik).

Gegenspieler von Frege war der britische Mathematiker George Boole, den wir heute als eine Art Vorreiter des Computers wegen seiner booleschen Algebra verstehen. Er war anscheinend der Erste, der der leeren Menge ein explizites Symbol zugewiesen hat. Dies geschah in seinem Buch "Mathematical Analysis of Logic" von 1847.

Der Schritt zu einem expliziten Symbol für die leere Menge ist keineswegs trivial. Wir können das Nichts rein sprachlich immer wieder anführen, aber wenn wir mit Mengen anfangen zu operieren, möchten wir auch Mengen als Resultate haben. Wenn wir zwei Mengen vereinigen, wie {1,2} mit {3,4}, erhalten wir die Menge der Zahlen von 1 bis 4. Wenn wir jetzt aber beide Mengen "schneiden", d.h. auf die gemeinsamen Elemente schauen, gibt es keine und das Resultat ist "leer". Wir könnten dann sprachlich weiter machen, aber nicht symbolisch. Viel bequemer als zu sagen "A und B haben keine gemeinsamen Elemente" ist deswegen zu schreiben "A∩B=∅" (d.h. der Schnitt von A und B ist die leere Menge) und wir können dann algebraisch weiter arbeiten.

Es ist dann so, dass Boole für die leere Menge das Symbol 0 verwendete. Diese Doppelnutzung des Symbols für die Zahl Null war für ihn bequem, da Boole seine logischen Operationen mit Hilfe der Wahrheitswerten 0 und 1 entfaltete. Viele andere Mathematiker übernahmen danach Booles Notation, d.h. in etwa fast die heutige, aber ohne den Strich durch den Vokal O.

Zu dieser ganzen Grundlagenforschung gesellte sich ein italienischer Mathematiker, Giuseppe Peano, der die Arithmetik ganz ohne Worte entfalten wollte. Statt langer Sätze wollte er nur Ketten von Symbolen verwenden, um den ganzen Formalismus frei von intuitiven, nicht überprüfbaren sprachlichen Vorurteilen zu halten. Peanos Notation für die leere Menge war überaus originell und es ist eigentlich schade, dass wir sie heute nicht mehr verwenden: Georg Cantor folgend, der den Großbuchstaben O (statt die Null wie Boole) als Symbol für die leere Menge verwendete, entschied sich Peano 1888 für einen schwarzen Kreis als Darstellung der Universalmenge (Alles) und einen leeren Kreis als Vertreter der leeren Menge bzw. das Nichts (siehe Abb.)

Peanos Symbole für die Universal- und Leermenge (Calcolo Geometrico, 1888, Seite 2).

Es war wahrscheinlich schwierig, diese Symbole bei den eigensinnigen Setzern durchzusetzen und so wechselte Peano nur ein Jahr später auf ein invertiertes Lambda (großgeschrieben) als Symbol für die leere Menge. Peano, wie man sieht, hat viel über die richtige symbolische Sprache für die Mathematik nachgedacht - aber auch über die Sprache für Menschen. Er erfand nebenbei "Interlingua", ein vereinfachtes Latein ohne Deklinationen, die als Universalsprache die grenzenlose Kommunikation ermöglichen sollte.

In Großbritannien übernahmen Whitehead und Russell, die Peanos Programm fortsetzten, Peanos Symbol für die leere Menge in ihrem grandiosem Werk "Principia Mathematica", das vielleicht noch kein Mathematiker jemals wirklich vom Anfang bis zum Ende gelesen hat. So undurchdringlich und schwerfällig ist die ganze Abhandlung. Der Leser bewegt sich im Schneckentempo durch eine Notationswüste, bis nach Hunderten von Seiten 1+1=2 bewiesen wird.

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