Vom Aberglauben zum Wissenschaftsglauben

Wie weit die gesellschaftliche Regression im Spätkapitalismus vorangeschritten ist, offenbart auch die neue "Wissenschaftsbewegung"

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Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.

Dialektik der Aufklärung

Ende April ging eine Protestwelle durch den globalen Wissenschaftsbetrieb, die sich vornehmlich gegen die wissenschaftsfeindliche Politik von US-Präsident Trump richtete (Scíence March). Die Wissenschaftler sehen sich mit einer zunehmend erstarkenden Wissenschaftsfeindlichkeit konfrontiert. Dies sei vor allem bei der Klimawissenschaft der Fall, die vor allem von den neuen rechtspopulistischen Bewegungen angegriffen werde.

Dabei weisen die Proteste aber eine merkwürdige Schlagseite auf, bei der jegliche kritische Selbstreflexion der Wissenschaft unterblieb. Wenn Kritik im Zusammenhang mit Forschung und Lehre geäußert wurde, dann nur an den Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb - während die widersprüchliche gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft im Kapitalismus nahezu vollständig ausgeblendet wurde.

Die neue "Wissenschaftsbewegung" fällt somit auf einen unkritischen Wissenschaftsbegriff zurück, wie er etwa im 19. Jahrhundert populär war. Selbst die Klassiker der wissenschaftskritischen Literatur scheinen im Wissenschaftsbetrieb kaum Spuren hinterlassen zu haben. Und tatsächlich kann die Welt so schön einfach sein - wenn man nur wissenschaftsgläubig genug ist. Auf der einen Seite finden sich hier die aufgeklärten Wissenschaftler, die in Gestalt des globalen Wissenschaftscommunity der objektiven Forschung und Lehre verpflichtet sein wollen. Die Gegenseite soll hingegen von den Kräften der irrationalen Finsternis, von Dummheit, Aberglauben und Partikularinteressen, beherrscht sein.

Fast könne es scheinen, als ob die Herrschaft im Kapitalismus immer noch auf plumpen Aberglauben oder auf dem Terror der Inquisition beruhen würde. Und tatsächlich ist es ja keine Einbildung, dass der Wissenschaft auch in den Metropolen immer größere Skepsis, mitunter offene Feindschaft entgegenschlägt. Es gibt eine breite, globale, in Mythen und Wahnvorstellungen versinkende barbarische Bewegung, deren Exponenten sich im Grad ihrer Militanz und in ihrer konkreten Ideologie unterscheiden: von der klimaleugnenden Wirtschaftslobby bis zur AfD, von Donald Trump bis zu den Taliban, von Boko Haram bis zum Islamischen Staat.

Und dennoch erklärt diese Zustandsbeschreibung nichts. Woher kommt dieser aufschäumende Hass auf die Wissenschaft, der ja auch in den Zentren des spätkapitalistischen Weltsystems an Dynamik gewinnt? Die Lobbygruppen und die populistischen Politiker, die etwa gegen die Klimawissenschaft polemisieren, artikulieren ja breite diesbezügliche Stimmungen in der Bevölkerung. Wissenschaftsfeindlichkeit, Populismus und Extremismus blühen ja nicht nur in der "unterentwickelten" Peripherie (etwa dem arabischen Raum), sondern gerade auch in den Zentren (hier vor allem in den USA), die ja einen langfristigen Rationalisierungsprozess ausgesetzt waren.

Wieso schlägt die wissenschaftliche Aufklärung, die nahezu lückenlose kapitalistische Rationalisierung der Metropolengesellschaften gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten plötzlich in Irrationalität um?