Überleben in den Wäldern der West-Ukraine

Bild: Andriy Manchuk

In der an Industrie armen Westukraine hat sich um das illegale Bernstein-Schürfen ein neuer Wirtschaftszweig entwickelt. Andriy Manchuk berichtet aus einem ökologischen Katastrophengebiet

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Andriy Manchuk ist Chefredakteur eines der bekanntesten linken Internet-Portale in der Ukraine, Liva.com.ua, Liva.com.ua/translate.html), Buchautor und Blogger. Von 2006 bis 2014 war er als Journalist angestellt bei den Zeitungen "Gaseta po-kiewski" und "Sewodnja". Jetzt schreibt er für die regierungskritische Website strana.ua. Mit Andriy Manchuk sprach Ulrich Heyden in Moskau.

Sie sind Chefredakteur des linken ukrainischen Internet-Portals Liva und Blogger. Was sind da ihre wichtigsten Themen?

Andriy Manchuk: Ich schreibe über reale wirtschaftliche Probleme, welche die Menschen interessieren. Ein wichtiges Thema ist das illegale Bernstein-Schürfen im Nordwesten der Ukraine, im sogenannten Gebiet "Polesje". Das ist ein riesiges Gebiet mit Mooren, Wald und großen Bernsteinvorkommen.1

Die Menschen haben dort ganze Wälder gerodet (Reportage des Fernsehkanals "Ukraina"), um an den Bernstein ranzukommen. Riesige Pumpen werden eingesetzt, um den Bernstein aus dem Sandboden zu spülen. Durch den wilden Abbau sieht die Gegend mit ihren Kratern und Baumstümpfen jetzt völlig verwüstet aus. Fotografieren oder Filmen ist dort gefährlich. Kleine Fluggeräte, mit denen Journalisten dort filmten, wurden abgeschossen.

Und die Regierung verhindert den illegalen Abbau nicht?

Andriy Manchuk: Die Bernstein-Schürfer arbeiten mit korrupten Polizisten und bewaffneten Nationalisten zusammen. Man muss wissen: Durch den Krieg im Donbass haben heute hunderttausende Ukrainer Kriegserfahrung und jede Art von Waffen, nicht nur Pistolen, sondern auch Granatwerfer und Maschinengewehre.

Wildes Roden der Bernsteinschürfer in Polesje, Westukraine. Screenshot Radio Swoboda

Im westukrainischen Gebiet Rowno haben Bernstein-Schürfer im März eine Polizeistation mit einem Granatwerfer beschossen. Eine andere Polizeistation wurde blockiert und die Herausgabe beschlagnahmter Pumpen gefordert. In der westukrainischen Stadt Luzk wurde im März die polnische Botschaft beschossen. Gerüchten zufolge war das eine Rache dafür, dass Polen bestimmten Ukrainern keine Visa mehr erteilt und Bernsteinschmuggler abgeschoben hat.

Kontrollposten mit schwarz-roter Flagge

Die Kontrolle in "Polesje" üben also nun die Bernsteingräber aus?

Andriy Manchuk: Ich fuhr mit meinen Freunden nach Olewsk, einem Bezirkszentrum im Nordwesten der Ukraine. Im Wald, nicht weit von der Grenze zu Weißrussland, stießen wir auf einen Kontrollposten der Bernstein-Schürfer. Sie waren bewaffnet und hatten eine schwarz-rote Fahne.

Die Fahne der ukrainischen Nationalisten?

Andriy Manchuk: Diese Banditen sind alle sehr politisiert. Die Banden der Bernstein-Schürfer werden von der Polizei oder von nationalistischen Gruppen kontrolliert. Alle bekannten Rechtsradikalen haben Polizeiausweise. Ich habe in der Gegend Verwandte. Es ist ein sehr armes Gebiet. Die Menschen dort sind auf den Staat nicht gut zu sprechen. Hunderttausende verdienen ihr Geld in der Westukraine jetzt mit dem Bernstein-Schürfen.

Haben Sie versucht, mit den Menschen dort zu sprechen?

Andriy Manchuk: Ich glaube, es hat keinen Sinn, dort jetzt linke Propaganda zu machen. Aber wer den Menschen dort mit einfachen Worten und ohne Rhetorik erklärt, wer schuld ist an ihrer Misere, findet Zuhörer. Wenn die Leute merken, dass du die Wahrheit sagst und das nicht für Geld und zum Nutzen von Politikern tust, glauben sie dir. Aber diese Agitation müssten Hunderte machen. Ein Linker kann da wenig ausrichten.

Die Verwaltung des Bezirks ist machtlos?

Andriy Manchuk: Mitte März besetzten in der Stadt Olewsk hunderte bewaffneter Menschen den Bezirksrat. Der wollte eine Beschränkung des Bernstein-Abbaus beschließen. Die Schürfer besetzten auch eine Fernstraße, die von Kiew nach Polen führt. Außerdem überfielen sie einen Posten an der ukrainisch-polnischen Grenze.

Wildes Roden der Bernstein-Schürfer in Polesje, Westukraine. Screenshot Radio Swoboda

Die Bernstein-Schürfer wollen ihre Ware möglichst problemlos nach Polen schaffen?

Andriy Manchuk: Ja, fast der gesamte Bernstein geht nach Polen. Geschäftsleute aus Polen und Litauen waren die ersten, die in den 1990er Jahren nach Polesje kamen und den Leuten erklärten, dass man mit dem Bernstein Geld machen kann. Der Westen förderte die Nachfrage. Bis zum Maidan 2013 war das noch kein großes Business. Doch nach dem Maidan verlor die Polizei die Kontrolle. Und die Menschen, welche durch die Erhöhung der Strom- und Heizkosten in den letzten drei Jahren verarmten, begannen massenhaft nach Bernstein zu suchen.

Wer sind die Endkunden beim Bernstein?

Andriy Manchuk: Es steigen jetzt auch Geschäftsleute aus China ein. Sie kaufen in Polen. Einige machen ihre Geschäfte aber auch schon von Kiew aus. Außerdem gibt es einen regen Schmuggel von billigen Zigaretten aus der Ukraine noch Polen. Die Zigaretten werden in der Ukraine von westlichen Firmen hergestellt. Es gibt aber auch illegale Zigarettenproduktion.

Für den Schmuggel werden auch Doppeldecker und Deltasegler eingesetzt. Vor einigen Wochen wurde eines dieser Fluggeräte abgeschossen. Ungarische und slowakische Grenzbeamte fanden auch gute ausgestattete Tunnel. Man fand sogar Tunnel mit Gleisen. Die gesamte westliche Grenzregion der Ukraine wird für den Schmuggel genutzt, Bernstein, Zigaretten und Holz aus den Karpaten.

Wer hat den Nutzen?

Andriy Manchuk: Es sind vor allem örtliche Barone, die örtliche Polizei und bewaffnete Nationalisten die vollständig in die Polizei integriert sind. Einige Beamte in Kiew bekommen ein Schmiergeld.