Schweizer stimmen gegen neue Kernkraftwerke

Alte Meiler dürfen am Netz bleiben, solange sie die Sicherheitsanforderungen erfüllen

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Heute hatten 5,3 Millionen Schweizer bis zwölf Uhr Mittag Zeit, ihre Stimme für oder gegen ein Energiewendegesetz abzugeben, das das Parlament der Eidgenossenschaft im September verabschiedet hat. Der aktuellen SRG-Hochrechnung nach wurde dieses Gesetz bei 43 Prozent Stimmbeteiligung mit 58,2 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Umfragen waren zuvor von einer geringeren Zustimmung ausgegangen.

Anders als die im letzten Jahr vom Volk abgelehnte Initiative der Grünen verbietet das jetzt angenommene Gesetz zwar den Bau neuer Atommeiler, setzt aber keinen festen Termin für die Abschaffung der bereits gebauten, die die Ökopartei bis spätestens 2029 schließen lassen wollte (vgl. Nein zur Schweizer Atomausstiegs-Initiative). Diese fünf Atomkraftwerke sollen so lange am Netz bleiben dürfen, so lange sie die Sicherheitsanforderungen erfüllen. Derzeit liefern sie etwa ein Drittel des in der Eidgenossenschaft verbrauchten Stroms.

Sehr unterschiedliche Berechnungen zu Mehrkosten

Wegen der für die Stromproduktion ausgesprochen günstigen Mischung aus hohen Bergen und viel Regen und Schnee kommt ein fast sechzigprozentiger Anteil aus Wasserkraftwerken. Er soll nun vor allem um Strom aus Solaranlagen und Windturbinen ergänzt werden, deren Beitrag man von aktuell gut vier bis 2020 auf sechs Prozent steigern will. Dafür wird die Ökostromabgabe von 1,5 Rappen auf 2,3 Rappen pro Kilowattstunde angehoben. In Deutschland ist sie mit 6,88 Eurocent etwa drei Mal so hoch.

Umwelt- und Energieministerin Doris Leuthard, die der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) angehört, errechnete damit eine Mehrbelastung von jährlich etwa 40 Franken pro Vierpersonenhaushalt. Politiker der Schweizerischen Volkspartei (SVP) warnten vor der Volksabstimmung davor, dass es dabei nicht bleiben werde, und kamen in ihren Modellen mit etwa 200 Milliarden Franken in den nächsten 30 Jahren auf jährliche Mehrbelastungen von 3200 statt 40 Franken. Dabei mussten sie allerdings mit befürchteten Nachfolgegesetzen rechnen, über die gestern noch gar nicht abgestimmt wurde.

Energieverbrauchssenkung ohne Gängelung?

Ein weiterer Angriffspunkt des Gesetzes war der dort festgeschriebene Plan, den Energieverbrauch pro Kopf bis 2035 auf 43 Prozent des Werts aus dem Jahr 2000 zu senken. Die Nein-Kampagne warnte, das könne in Verboten und Rationierung münden - die Ja-Kampagne warb dagegen damit, dass das immerhin stolze 47 Seiten füllende Gesetz keine solchen Sanktionen enthält und davon ausgeht, dass der Wert ganz unmerklich mit effizienterer Technik und einer in der Vorschrift enthaltene Erhöhung und Verlängerung der 2019 auslaufenden Subventionen für die Wärmedämmung von Gebäuden erreicht werden kann. Bei den Werten zum Kohlendioxid von Kraftwagen will man sich an denen der EU orientieren, wo die meisten Schweizer Autos hergestellt werden.

Wirtschaftsdachverband uneins

Die Dämmsubventionen sorgten dafür, dass der schweizerische Wirtschaftsdachverband diesmal keine Empfehlung gab, ob man mit "Ja" oder mit "Nein" stimmen soll: Denn während Bauunternehmer und Handwerker neue Aufträge erwarten, befürchtet der Maschinenbau- Elektro- und Metallindustrieverband Swissmem, dass es im Winter zu Stromausfällen kommen könnte. Dass 6.500 Windturbinen die erwarteten Deckungslücken vollständig schließen, hält man dort insofern für unwahrscheinlich, als Landschafts- und Tourismusschützer den Bau solcher Anlagen vielerorts verhindern wollen.

Über die Kosten mussten sich die Mitglieder des Verbandes dagegen keine Sorgen machen: Wie in Deutschland wurden auch in der Schweiz Unternehmen, die viel Strom verbrauchen (und oft gute Kontakte zur Politik haben), aus Rücksicht auf den Standort von der Ökoumlage befreit.

Sozialdemokraten setzen auf stärkere Einbindung der Schweiz in den europäischen Strommarkt

Jean-Philippe Kohl, der stellvertretende Direktor von Swissmem, ließ heute Nachmittag gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) offen, ob der Verband seinen Mitgliedern jetzt Gasaggregate zur Sicherung der Stromversorg empfehlen wird: "Auf eine Technologie", so Kohl, "wollen wir uns nicht festlegen". Eric Nussbaumer, ein Nationalratsabgeordneter der sozialdemokratischen SP (die die fünf bestehenden Atomkraftwerke möglichst schnell abschalten will), sieht die Lösung in einer stärkeren Einbindung der Schweiz in den europäischen Strommarkt und meinte, nun komme man nicht mehr "an der Diskussion über ein Stromabkommen vorbei". Für Atomstromimporte steht der Schweiz nach dem Atomenergieausstieg (beziehungsweise Nichteinstieg) von Österreich, Italien, und Deutschland an direkten Nachbarn allerdings nur noch Frankreich zur Verfügung.

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