Moskau: Protest gegen Häuser-Abriss

Chrutschowka-Häuser vor dem Abriss. Bild: U. Heyden

Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin will 1,6 Million Menschen aus alten Plattenbauten in neue Wohnungen umsiedeln. Viele fürchten eine Umsiedlung in andere Stadtbezirke und hohe Wohnblöcke

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"Sobjanin v otstawku!" Immer wieder hallte der Ruf über den Sacharow-Prospekt, einer nördlich des Moskauer Stadtzentrums gelegenen breiten Straße, an deren Ränder nur Bürohäuser stehen. Die Stimmung war stürmisch. Die 20.000 Menschen, die sich am 14. Mai auf der Straße versammelt (Video-Luftaufnahme) hatten (nach Polizeiangaben 8.000 Menschen), demonstrierten gegen das vom Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin initiierte Renovazija-Gesetz. Es soll die Grundlage schaffen für den Abriss von 4.500 Plattenbauten und die Umsiedlung von 1,6 Millionen Moskauern in neue Häuser.

Nach dem Gesetz, welches am 5. Juli in zweiter Lesung in der Duma beraten werden soll, stehen nicht nur die viergeschossigen Plattenbauten mit 80 Wohnungen auf der Abriss-Liste, die unter Generalsekretär Nikitia Chrutschow Anfang der 1960er Jahre gebaut wurden und im Volksmund "Chrutschowki" heißen. Auch an die Plattenbauten "grenzende Gebäude" sind vom Abriss bedroht. Ganze Quartiere will man nach dem neuen Gesetz zum Abriss frei geben.

Eine Bewohnerin kurz vor der Umsiedlung. Bild: U. Heyden

Statt Parteifahnen selbstgefertigte Transparente und Plakate

Auf die Kundgebung gekommen waren viele Menschen, die noch nie auf einer Demonstration waren. Parteifahnen waren nicht zugelassen. Auf der Rednertribüne sprachen nur Vertreter der Initiativgruppen aus den Moskauer Stadtbezirken, keine Politiker. Als sich Aleksej Nawalni der Rednertribüne näherte, wurde er von der Polizei weggeführt. Unklar blieb, ob Nawalni eine Einladung bekommen hatte, zu sprechen oder ob der bekannte Oppositionspolitiker nur näher an der Rednertribüne stehen wollte.

Die Kreativität der Demonstranten beim Fertigen der Transparente war eindrucksvoll. Auf einem der Plakate war ein kleiner grauer Hund zu sehen, der ein viergeschossiges Haus umarmte und sagte: "Ich gebe dich nicht her!"

Andere Plakate spielten mit Revolutions- und patriotischen Losungen. Die Demonstranten aus dem Innenstadt-Bezirk Krasnopresnenskaja waren mit roten Kopftüchern erschienen. Warum rot, wollte ich wissen von der Demonstrantin Alina wissen? "Rot (russisch: "krasni", U.H.) ist die Farbe unseres Bezirks." Auf einem Plakat sah man eine in einen roten Umhang gekleidete "Mutter Heimat" umgeben von Bajonetten rufen: "Schützt Presna vor der Renovazija." Mit Presna war der alte Arbeiterbezirk Krasnopresnenskaja gemeint, wo während der Revolutionen 1905 und 1917 bewaffnete Arbeiter gegen die Staatsmacht kämpften.

Die Gruppen der neuen Bewegung aus den Bezirken waren geschlossen angerückt und trugen die Wappen oder die Namen ihrer Bezirke. "Akademitscheski gegen die Deportation", stand auf einem der Transparente. Akademitscheski heißt ein Bezirk in der Nähe der Lomonossow-Uni, wo viele Akademiker wohnen. "Keine Räumung des niedriggeschossigen Moskaus", stand auf einem anderen Plakat.

Keine Bäume mehr vor dem Fenster

Laut dem Renovazija-Gesetz, welches im April in erster Lesung gegen vier Gegenstimmen in der Duma beschlossen wurde, will die Stadt optimale Bedingungen für Firmen schaffen, die sich am Neubau von Wohnhäusern beteiligen. Bisher gültige Normen für den Häuserbau können umgangen werden. Das soll die Umsiedlung "beschleunigen".

Es drohen nun weitere zwanziggeschossige, hochpreisige Wohngebäude, eine enge Bebauung, weniger Grün, weniger Licht und weniger soziale Infrastruktur, meinen die Kritiker. In den Bezirken mit Chrutschowkas geht es noch gemütlich zu. Man hat Bäume vor dem Fenster und zwischen den Häusern gibt es kleine Parks mit Kinderspielplätzen. Alles ist überschaubar und nicht überladen mit Menschenmassen, wie in den zwanziggeschossigen Wohnhäusern, die in den letzten zehn Jahren gebaut wurden.