"Es gibt keine Depressionen"

Sander van Lien / Rijksuniversiteit Groningen

Wie der Psychologie- und Psychiatrieprofessor Peter de Jonge die psychische Gesundheitsversorgung revolutionieren will

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Peter de Jonge ist Professor für Psychiatrische Epidemiologie an den Universitätskliniken Groningen. Seit 2016 ist er ebenfalls Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Groningen. De Jonge ist unter anderem auf affektive Störungen (Gefühlsstörungen), die Epidemiologie psychischer Störungen, psychologische Methodologie und Statistik spezialisiert. Die psychische Gesundheit des Menschen erforscht er seit rund 20 Jahren.

Hierfür erhielt er Forschungsmittel in Höhe von über fünf Millionen Euro bewilligt, beispielsweise von der Niederländischen Forschungsorganisation (NWO). Das Gesundheitsunternehmen Espria unterstützte seine Forschung ebenfalls mit einer Million. De Jonge ist Mitglied des von der Harvard University geführten World Mental Health Surveys, das unter anderem Empfehlungen für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedet.

Professor De Jonge, bevor wir Ihre provokante Sichtweise auf Depressionen und Ihr eigenes Modell psychischer Störungen besprechen, würde ich gerne mehr über Ihre Forschungsmethoden erfahren. Würden Sie kurz erklären, was Sie für Ihr Forschungsprojekt "Wie verrückt sind die Niederländer" (Hoe Gek is Nederland) gemacht haben?

Peter de Jonge: Es geht vor allem um die Frage, ob wir uns ein bestimmtes Individuum im Lauf der Zeit anschauen oder jemanden mit einem statistisch ermittelten Durchschnitt vergleichen. Psychologische und psychiatrische Forschung hat meistens allein Letzteres im Blick. Ich finde es aber wichtig, mir Individuen anzuschauen: Also nicht, ob er oder sie sich besser fühlt als der Durchschnittsmensch, sondern wie gut sich jemand im Vergleich zu seinem eigenen, normalen Gesundheitszustand fühlt.

Bei "Wie verrückt sind die Niederländer" kann man beides tun: Seine psychische Gesundheit mit dem Rest des Landes vergleichen, aber auch sich selbst mit anderen Zeitpunkten. Zum Beispiel wird oft gesagt, dass sich Menschen durch Bewegung besser fühlen. Aber stimmt das auch für mich selbst?

Mit einer speziell hierfür entwickelten App können unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer dreimal am Tag Fragen über ihr psychisches Wohlbefinden beantworten. So haben wir nach dreißig Tagen genügend Daten, um ein Bild ihrer "emotionalen Landschaft" zu zeichnen. Wird jemand durch Wandern glücklicher? Oder durch Besuche bei den Schwiegereltern ausgerechnet unglücklicher?

Ergebnisse für eine bestimmte Person aus einer Studie mit N=600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das Netzwerkmodell zeigt, dass Sorgen Schlafprobleme verstärken. Dadurch nehmen Müdigkeit und schlechte Konzentration zu, was wiederum Schuldgefühle verstärkt und die Sorgen noch größer macht. Mindfulness (Achtsamkeit, Meditation, Entspannung) sowie Aktivitäten im Freien bieten Ansatzpunkte, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Bild: Peter de Jonge

Individuelle Problemlösungen sind wichtig

Welche Methoden sind das genau? Und warum wurde das nicht schon früher getan?

Peter de Jonge: Es geht um Zeitreihenanalysen aus der Ökonometrie. Früher dauerte eine einzelne Berechnung Wochen. Heute erledigt der Computer das automatisch innerhalb von Sekunden. Um das zu ermöglichen, haben verschiedene Spezialisten in unserem Team neue Algorithmen entwickelt.

Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass man in der Psychologie und Psychiatrie allgemeingültige Antworten für wichtiger hält als die Problemlösung für Individuen. Für den Bereich der psychischen Gesundheit kann man aber leicht zeigen, dass dies auf Kosten der Gesundheitsdienstleistungen geschieht: "Ein Maßstab für alle" funktioniert da schlicht nicht gut.

Meiner Meinung nach kann man über einen Beinbruch oder einen Herzinfarkt sehr wohl allgemeine Aussagen treffen: Wie lange dauert die Genesung? Wie muss man behandeln? Die Psyche der Menschen ist aber so unterschiedlich, dass kaum Verallgemeinerungen möglich sind. Wenn man es trotzdem versucht, dann verliert man das Individuum aus den Augen.

Der Vorteil meines Modells ist, dass wir die mehreren Hundert Kategorien für psychische Störungen nicht brauchen, um etwas Wichtiges über die psychische Gesundheit von jemandem zu erfahren. Vielleicht entstehen am Ende doch Gruppen - aber dann bestimmen die Daten das selbst und nicht, was sich Expertinnen oder Experten im Voraus ausgedacht haben.