Sachbücher des Monats: Juni 2017

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jeden Monat neu präsentiert von der Süddeutschen Zeitung, dem Norddeutschen Rundfunk, Buchjournal, Börsenblatt und Telepolis.

Ulrike Guérot
Der neue Bürgerkrieg
Das offene Europa und seine Feinde

Europa steckt tief in der Krise. Die von Rechtspopulisten angestrebte Rückkehr zu nationalstaatlicher Konkurrenz kann nach Meinung von Ulrike Guérot nicht die Lösung sein. Sie plädiert für einen radikalen Neuanfang: Dem gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung soll eine "gemeinsame europäische Demokratie" folgen. Nur so lässt sich ihrer Ansicht nach das "weltoffene Europa" verwirklichen, das die Mehrheit der Europäer will, wie sie glaubt.
Ullstein Verlag, 94 Seiten, € 8,00

Georg Seeßlen
Trump!
POPulismus als Politik

Wie ist Trumps überraschender Wahlsieg zu erklären? Was lässt sich aus seinem Aufstieg zum mächtigsten Mann der Welt über Wesen und Formen populistischer Politik lernen? Wie ist es überhaupt um die Zukunft der westlichen Demokratie bestellt? Und was kommt auf uns zu, wenn Donald Trump die Politik der USA bestimmt? Populismus als politische Bewegung hat eine Wurzel in der Beziehung zu einem bestimmten Begriff von Volk. Populismus hat aber auch eine Wurzel in der populären Kultur, im Medienkonsum und in den Strategien des Showbusiness. Georg Seesslen beschreibt, was geschieht, wenn die Medienträume und -albträume zu realer Macht werden, wie sich mediale Pop-Träume und populistische Politik zueinander verhalten und wie schließlich Politik sich dereinst womöglich nur noch als "Reality" verstehen lässt, als Fortsetzung einer virtuellen, affekt- und bildhaften Innenwelt in die Räume der (mehr oder weniger) "repräsentativen" Demokratie.
Bertz und Fischer Verlag, 144 Seiten, € 7,90

Dieter Borchmeyer
Was ist deutsch?
Die Suche einer Nation nach sich selbst

Die Frage "Was ist deutsch?" ist ihrerseits typisch deutsch - keine andere Nation hat so sehr um die eigene Identität gerungen und tut es bis heute. Wie vielfältig die Antworten auf diese Frage im Lauf der Jahrhunderte ausfielen, das zeigt Dieter Borchmeyer: Von Goethe über Wagner bis zu Thomas Mann schildert er, wie der Begriff des Deutschen sich wandelte und immer wieder neue Identitäten hervorbrachte. Er erzählt von einem Land zwischen Weltbürgertum und nationaler Überheblichkeit, vom deutschen Judentum, das unsere Auffassung des Deutschen wesentlich mitgeprägt hat, von der Karriere der Nationalhymne und der deutschesten aller Sehnsüchte: der nach dem Süden. Borchmeyer erklärt, wie gerade die deutsche Provinz - etwa Weimar und Bayreuth - Weltkultur schaffen konnte und was es für Deutschland bedeutet, sich entweder als Staats- oder als Kulturnation zu verstehen.
Rowohlt Berlin Verlag, 1056 Seiten, € 39,95

Jeanette Erazo Heufelder
Der argentinische Krösus
Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule

Manchmal braucht es zur Verwirklichung einer Idee einfach Geld! Der Ruhm des von Horkheimer und Pollock gegründeten, von Adorno nach 1945 geprägten Frankfurter Instituts für Sozialforschung strahlt in alle Welt. Weniger bekannt ist, woher das Geld kam: Felix Weil war Erbe eines deutsch-jüdischen Auswanderers, der in Argentinien ein Vermögen verdiente, die Skyline von Buenos Aires prägte, aber nie seine deutschen Wurzeln vergaß. Als er zum Ersten Weltkrieg heimkehrte, lernte auch sein Sohn die Heimat kennen, begeisterte sich aber vor allem für Revolution und Sozialismus. In den Zwanziger Jahren lernte er Horkheimer und Pollock kennen und hatte endlich das Vehikel gefunden, mit dem er sein Erbe nicht verpulvern konnte - dazu war es zu groß -, aber ein bleibendes geistiges Projekt finanzieren konnte, das seinen intellektuellen Ansprüchen entsprach.
Berenberg Verlag, 208 Seiten, € 24,00

Michael Lüders
Die den Sturm ernten
Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte

Wo liegen die Wurzeln der syrischen Katastrophe? Das gängige Bild sieht die Schuld einseitig bei Assad und seinen Verbündeten, insbesondere Russland. Dass auch der Westen einen erheblichen Anteil an Mitschuld trägt, ist kaum zu hören oder zu lesen. Anhand von freigegebenen Geheimdienstdokumenten und geleakten Emails von Entscheidungsträgern zeigt Michael Lüders, wie und warum die USA und ihre Verbündeten seit Beginn der Revolte ausgerechnet Dschihadisten mit Waffen beliefern. Dadurch haben sie die innersyrische Gewalt ebenso befeuert wie auch den Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland. Lüders beschreibt, wie insbesondere Washington schon seit langem nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, das Assad-Regime zu stürzen. Dabei behandelt er auch frühere amerikanische Putschversuche in Syrien in den 1940er und 1950er Jahren, die fehlschlugen und erklären, warum sich Damaskus der Sowjetunion zuwandte. Die Kehrseite dieser Politik des Regimewechsels erlebt gegenwärtig vor allem Europa: mit der Flüchtlingskrise und einer erhöhten Terrorgefahr durch radikale Islamisten.
Verlag C. H. Beck, 176 Seiten, € 14,95

Jürgen Osterhammel
Die Flughöhe der Adler
Historische Essays zur globalen Gegenwart

Die "Globalisierung" führt heute jeder im Munde, aber was genau darunter zu verstehen ist, darüber herrscht vielfach Unklarheit. Jürgen Osterhammel geht in diesem Band einer ubiquitären "Denkfigur" des 21. Jahrhunderts genauer auf den Grund und stellt die grundsätzliche Frage nach den Maßstäben und Methoden einer Vorgeschichte der globalen Gegenwart. Wer die Vergangenheit verstehen will, der bedarf - wie die Essays dieser Sammlung höchst eindrucksvoll zeigen - der "Flughöhe der Adler": In seiner großen Höhe hat er den weiten Überblick und behält dennoch die Details am Boden fest im Auge.
Verlag C. H. Beck, 300 Seiten, € 19,95

Dina Ionesco, Daria Mokhnacheva, François Gemenne
Atlas der Umweltmigration

Die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, war noch nie so hoch wie heute. Ende 2015 waren 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Doch was, wenn in den nächsten Jahrzehnten weitere 200 Millionen hinzukommen? - Menschen, die vor allem vor den Auswirkungen des Klimawandels fliehen: vor steigenden Meeresspiegeln, Waldbränden und Dürre oder Mangel an Trinkwasser.
Aus dem Englischen übertragen von Barbara Steckhan, Sonja Schuhmacher und Gabriele Gockel, Kollektiv Druck-Reif.
oekom Verlag, 169 Seiten, € 22,00

Helwig Schmidt-Glintzer
Mao Zedong
"Es wird Kampf geben" - Eine Biografie

An dem "großen Steuermann" Mao Zedong scheiden sich bis heute die Geister: Steht er als Diktator in einer Reihe mit Hitler und Stalin oder muss er als Visionär gesehen werden, der China als die kommende Weltmacht auf den Weg brachte? Bislang erschöpfen sich die Betrachtungen seines Lebenswegs in skandalfreudigen Dämonisierungen seiner Persönlichkeit. Helwig Schmidt-Glintzer nimmt in dieser Biografie Mao auf der Grundlage neuer Quellen und Forschungen nun endlich als Person in der Geschichte ernst: Er schildert, vor welchem historischen Hintergrundszenario Mao antrat, um nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches die Demütigung durch die Kolonialmächte abzuschütteln und China zu erneuern. Und er zeigt, dass sich Mao zur Durchsetzung dieser gewaltigen Aufgabe pragmatisch den wechselnden außen- und innenpolitischen Herausforderungen anpasste und entgegen dem, was später als Maoismus galt, durchaus undogmatisch agierte.
Verlag Matthes & Seitz, 466 Seiten, € 30,00

Rolf Peter Sieferle
Finis Germania

Die Nominierung dieses Buchs hat in der Jury heftige Kontroversen und schließlich auch größeres Medienecho ausgelöst, da bis auf eine Ausnahme niemand aus der Jury dieses Buch wegen seiner völkisch-rechtsnationalistischen Ideologie als empfehlenswert betrachtet. Schon im Vorwort ist von einer "Umvolkung" nach der identitären Ideologie die Rede, die "ethnisch-deutsche Bevölkerung" werden überwältigt. Sieferle selbst macht sich auch für eine Holocaust-Leugnung stark, Auschwitz wird als "Mythos“ bezeichnet, die Juden würden "den Tätern und ihren Symbolen die Kraft ewiger Verworfenheit" zuschreiben.

In diesem Fall konnte ein einzelner Juror durch wiederholtes Voting die Empfehlung durchsetzen. Die Voten werden von den Jurymitglieder bislang anonym eingereicht. Hier wird, sollte die Liste fortgesetzt werden, ein neuer Modus ausgearbeitet werden müssen, um solche U-Boote zu verhindern. Der Juror, ein Mitarbeiter des Spiegel, hatte sich auf wiederholte Anfragen aus dem Kreis der Juroren nicht gemeldet und erst einmal keinen Versuch gemacht, seine Entscheidung zu begründen. Schließlich warf er den anderen Jury-Mitglieder Illiberalität und zensierende "Konsenswärme" vor und begründete seine Empfehlung als "Votum gegen einen Zeitgeist, der die Preisgabe der europäischen und der deutschen Kultur zugunsten eines diffusen Weltbürgertums propagiert". - Florian Rötzer

Stellungnahme der Jury: Auf die Sachbuch-Bestenliste des Monats Juni ist auf Position 9 das Buch "Finis Germania" von Rolf Peter Sieferle geraten. Die Jury distanziert sich von Buch und Verlag und bedauert dessen Nominierung. Der Titel ist durch die Akkumulation von Punkten eines einzelnen Mitgliedes der Jury, Dr. Johannes Saltzwedel, Der Spiegel, auf die Liste gekommen. Da die Nominierungen für die Sachbuchliste ohne Abstimmung untereinander erfolgen, war die Nominierung von "Finis Germania" den anderen Jurymitgliedern vor Veröffentlichung nicht bekannt. Johannes Saltzwedel hat inzwischen seinen Rücktritt aus der Jury erklärt und eine eigene Meldung veröffentlicht. Einstimmigkeit herrscht darüber, dass jedes Jurymitglied frei ist, seine Meinung durch die Vergabe von Punkten kundzutun. Wir akzeptieren jedoch keine politische Instrumentalisierung dieser Liste durch gezielte Platzierung. Im übrigen werden wir das Verfahren der listenmäßigen Nominierung derart erneuern, dass eine solche Einzelplatzierung nicht mehr möglich ist.

gez. Andreas Wang für die Jury der Sachbuch-Bestenliste Berlin, d. 12.06.2017

Christoph Türcke
Nietzsches Vernunftpassion
Aufsätze und Reden

Nietzsche ist die fleischgewordene Revolte gegen die Abstraktion. Er revoltierte dagegen geistig, indem er die triebhaften Eingeweide des Intellekts offenlegte; literarisch, indem er die ganze Umständlichkeit argumentativer Beweisführung fahren ließ zugunsten eines impulsiven, illustrativen, bildgesättigten Gedankenausbruchs, der der Philosophensprache eine nie gekannte Anschaulichkeit und Leichtfüssigkeit gab. Nicht zuletzt revoltierte er auch physisch gegen die Abstraktion, indem er am Professorenamt erkrankte - gewissermaßen an der akademischen Welt seiner Zeit, die ihrerseits bloß die intellektuelle Firnisschicht auf der sogenannten industriellen Kultur darstellt.
zu Klampen Verlag, 125 Seiten, € 12,80

Besondere Empfehlung des Monats Juni von Elisabeth von Thadden:

Greta Wagner
Selbstoptimierung
Praxis und Kritik von Neuroenhancement

Werden Medikamente zur kognitiven Leistungssteigerung eingenommen, um schneller und konzentrierter zu arbeiten als andere? Ist Neuroenhancement der Versuch, sich Selbstdisziplin in Form von Tabletten zuzuführen? Die in Deutschland und den USA durchgeführte Studie gibt Aufschluss über die Motive der Konsumenten und das Unbehagen, das viele gegenüber Neuroenhancement empfinden. Dabei analysiert sie Neuroenhancement im Kontext der Wettbewerbsgesellschaft der Gegenwart.
Campus Verlag, 332 Seiten, € 29,95

Die Jury: René Aguigah,Deutschlandradio; Dr. Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung; Prof. Dr. Rainer Blasius, FAZ; Dr. Eike Gebhardt; Daniel Haufler, Berliner Zeitung; Dr. Otto Kallscheuer; Petra Kammann, inrheinkultur; Elisabeth Kiderlen; Jörg-Dieter Kogel, Radio Bremen; Prof. Dr. Ludger Lütkehaus; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Dr. Jutta Person, Philosophie Magazin; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, TELEPOLIS; Dr. Johannes Saltzwedel, Der Spiegel; Sabine Sasse; Albert von Schirnding; Dr. Frank Schubert, Spektrum der Wissenschaft; Dr. Jacques Schuster, DIE WELT; Norbert Seitz, Deutschlandfunk Köln; Hilal Sezgin; Dr. Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT; Dr. Andreas Wang, NDR Kultur; Dr. Uwe Justus Wenzel, Neue Zürcher Zeitung; Stefan Zweifel, Schweiz

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