Türkei: Wann wusste Erdogan vom Putsch?

Mobilisierte Erdogan-Anhänger nach dem Putsch, 22.Juli 2016. Foto: Mstyslav Chernov / CC BY-SA 4.0

Die Opposition übt harte Kritik am Abschlussbericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission zum Putschversuch von 2016

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Rund um den Gezi Park im Istanbuler Stadtzentrum zieht sich ein Zaun aus Absperrgittern. Im Park und auf dem angrenzenden Taksim Platz patrouillieren bewaffnete Polizisten, in der Nähe sind Wasserwerfer und Mannschaftsbusse stationiert. Es ist ein so bedrohliches wie trostloses Bild. Und es ist ein starkes Symbol: Die Regierung hat Angst. Auch vier Jahre nach dem Gezi-Aufstand fürchtet sie nichts mehr als neue Massenproteste, die sich in der aufgeheizten Stimmung im Land jederzeit wieder entzünden könnten.

Im Mai 2013 hatte die Polizei brutal auf eine Handvoll Gentrifizierungsgegner und Umweltschützer reagiert, die den Abriss des Parks verhindern wollten (vgl. "Jeder, der versucht, den Taksim-Platz zu betreten, wird als Terrorist betrachtet"). Daraufhin entstanden landesweite Proteste gegen die Politik von Recep Tayyip Erdogan, an denen sich mehrere Millionen Türken beteiligten. Der Staat reagierte mit Gewalt. Acht Menschen starben, tausende wurden verletzt. Gezi war eine Zäsur. Erdogan war verwundbar und reagierte panisch. In den folgenden Jahren vollzog er einen radikalen Demokratieabbau und etablierte ein repressives Regime, das jede kritische Stimme hart bekämpft.

Der Gezi-Schock

Das Referendum zum Präsidialsystem im April hat gezeigt, wie berechtigt diese Angst ist. Erdogans System ist keineswegs etabliert. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung ist nicht bereit, es mitzutragen. Und die daraus resultierende Frage lautet: Wie lange kann Erdogan seine Gewaltherrschaft aufrechterhalten? Wie weit ist seine eigene Partei bereit, zu gehen?

Am vergangenen Sonntag hielt der Staatspräsident eine Rede bei der AKP-nahen Ansar Stiftung, die vor rund einem Jahr in einen Skandal um massenhaften Kindesmissbrauch verwickelt war und einer Strafverfolgung nur entgehen konnte, weil die AKP intervenierte. Es war der 28. Mai, der als Jahrestag des Gezi-Aufstands gilt. "Jene Jugendlichen, die in der Nacht des 15. Juli auf die Straße gingen", sagte er, "waren nicht die Jugendlichen des Gezi Parks". Der Gezi-Schock scheint bei Erdogan tiefer zu sitzen als der Putsch-Schock.

Putsch zur Heldengeschichte stilisiert

Den Putsch selbst stilisiert die AKP zu ihren Gunsten zur Heldengeschichte. Der parlamentarische Abschlussbericht zum 15. Juli 2016 steht heftig in der Kritik. Zum einen birgt er keine neuen Informationen und stützt sich auf Aussagen, die höchstwahrscheinlich unter Folter zustande kamen und daher wertlos sind.

Zum anderen lässt der Bericht keinen Zweifel daran, dass Fethullah Gülen persönlich hinter dem Umsturzversuch gestanden haben soll - erneut ohne handfeste Beweise für die Behauptung zu liefern. Gülen selbst hatte den Putschversuch verurteilt und die Anschuldigungen der AKP mehrfach von sich gewiesen.

Während die AKP ihre eigene enge Kooperation mit der Gülen-Bewegung bis zum Jahr 2013 zu marginalisieren versucht, stellt sie die Behauptung auf, die Bewegung habe alle Parteien "infiltriert" und zeichnet ein Bild einer durch und durch von Gülen beherrschten Türkei. Dieses Narrativ dürfte auch weiterhin dazu herhalten, jedweden Regierungsgegner aus dem Verkehr zu ziehen unter der einfachen Behauptung, die betreffenden Personen seien Gülen-Anhänger.

Wie absurd das ist zeigt sich in den letzten Monaten an zahlreichen Beispielen. So ist der Journalist Ahmet Sik spätestens seit seiner Festnahme unmittelbar vor Veröffentlichung seines Buches "Die Armee des Imam" im Jahr 2011 der wohl prominenteste Gülen-Kritiker des Landes. Heute sitzt er erneut in Haft - und diesmal wird ihm vorgeworfen, Gülen-Anhänger zu sein.

Dasselbe wird Mediha Olgun und Bekir Gökmen Ulu vorgeworfen. Sie wurden vergangene Woche verhaftet. Die beiden arbeiteten für die Tageszeitung Sözcü - ein nationalistisch-kemalistisches Boulevardblatt, das kaum in Verdacht steht, Sympathien für Gülen zu hegen.

Kritik übt der Report am Geheimdienst MIT. Der Dienst habe schlecht gearbeitet und müsse umstrukturiert werden. Er soll erst am Nachmittag des 15. Juli durch einen Tippgeber aus der Armee von den Putschplänen erfahren und auch dann noch zu langsam reagiert haben. Es steht allerdings die Frage im Raum, ob das stimmt. Denn es mehren sich die Anzeichen dafür, dass Armee und Regierung früh Bescheid wussten und die Putschisten gewähren ließen.