Kosovo: Wahlen bestätigen gescheiterten Staat

Foto: Quinn Dombrowski. Lizenz: CC BY-SA 2.0

Nach massenhaftem Zeugentod freigesprochener Haradinaj wird wahrscheinlich neuer Ministerpräsident - über ein Viertel stimmt für ultranationalistische Großalbanienpartei

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der politischen Glaubensrichtung nach, die bei den US-Republikanern "Neocon" und bei den US-Demokraten "humanitäre Interventionen" hieß, musste man in anderen Ländern nur die dortige Führung auswechseln - und schon würden sich die Völker dort zu Demokratien nach amerikanischem Vorbild entwickeln. Diese Vorstellung herrschte auch bei der NATO-Intervention im Kosovo vor, an der die damalige deutsche Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer maßgeblich beteiligt war.

18 Jahre und viele Milliarden Steuergelder später lässt sich kaum noch daran rütteln, dass diese Vorstellungen (zumindest in der ehemaligen serbischen Provinz) ähnlich unbegründet waren wie die vergangener Kulturen, dass sich mit Regentänzen und Menschenopfern das Wetter beeinflussen lässt (vgl. Europas gescheiterte Staaten).

In den gestrigen Parlamentswahlen siegte nämlich bei nur gut 40 Prozent Wahlbeteiligung das Wahlbündnis von Ramush Haradinaj, das aus seiner Partei AAK, der aus dem Hashim-Thaçi-Flügel der UÇK hervorgegangenen PDK und der aus den Fatmir-Limaj-Truppen der UÇK entstandenen Nisma besteht. Haradinaj, der von Dezember 2004 bis März 2005 schon einmal Ministerpräsident war, wurde damals vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in den Haag angeklagt (vgl. Händeschütteln mit dem Kriegsverbrecher), dort jedoch "aus Mangel an Beweisen freigesprochen", weil "fast alle Belastungszeugen vor Ende des Prozesses unter mysteriösen Umständen starben", wie heute selbst die Südddeutsche Zeitung einräumen muss, die Ende der 1990er Jahre den NATO-Einsatz mit herbeischrieb (vgl. IS-Vorbild UÇK?).

Großalbanien-Ultranationalisten voraussichtlich auf Platz 2

Auf den zweiten Platz landete mit 26,75 Prozent Stimmenanteil die ultranationalistische Vetëvendosje, deren Anhänger ein Großalbanien fordern, das unter anderem einen beträchtlichen Teil Mazedoniens und die griechische Region Epirus beinhalten würde. Die Reihenfolge könnte sich allerdings noch ändern, weil die bislang regierende LDK, die Partei des vor 18 Jahren als Beweis für eine "demokratische Opposition" präsentierten und inzwischen verstorbenen Schriftstellers Ibrahim Rugova mit 25,81 Prozent Stimmenanteil nur knapp dahinter liegt. Endgültig feststehen wird der genaue Stimmenanteil wahrscheinlich erst Mitte der Woche.

Mit Haradinajs AAK, Thaçis PDK und Limajs Nisma haben sich drei politische Akteure zusammengeschlossen, die der Organisierten Kriminalität einer für das deutsche Verteidigungsministerium angefertigten Studie des Instituts für Europäische Politik (IEP) nach am nächsten stehen - um es sehr vorsichtig zu formulieren. Die als "Verschlusssache" eingestufte Studie des IEP kam bereits Anfang 2007 zu dem Schluss, dass das Kosovo "fest in der Hand der Organisierten Kriminalität" ist, die "weitgehende Kontrolle über den Regierungsapparat" hat.

Clans und Kanun

Während die Herrschaft von kriminellen Kriegsverbrechern üblicherweise als Grund für eine Intervention dient, wurde sie im Kosovo durch die Intervention erst möglich. Der Bericht führt aus, wie "parallel zum öffentlichen Ordnungswesen" die "Dominanz des clanbasierten und auf den Grundprinzipien patriarchaler Altersautorität fußenden Herrschaftssystems" wuchs, während der NATO-Angriffe einen "exponentiellen Machtzuwachs erfuhr und nach dem Zusammenbruch der jugoslawischen Ordnung zur alleinigen gesellschaftlichen Autorität im Kosovo avancierte." Anschließend kam es zur:

Herausbildung von clangesteuerten politkriminellen Netzwerken, die seither maßgeblich die ökonomischen Geschicke des Kosovo kontrollieren und konkurrierende legal aufwachsende Strukturen notfalls mit Waffengewalt eliminieren [...] Unter dem Deckmantel der Etablierung politischer Parteien verfestigten rivalisierende Clans [ihre] Machtstrukturen und konnten in Folge mehrerer Wahlen sowie aufgrund der politischen Anerkennung seitens internationaler Institutionen wie UNMIK und KFOR eine bislang unübertroffene Machtfülle erlangen.

Dass sich daran auch zehn Jahre später und trotz teurer ausländischer Militär- und Behördenpräsenz nichts geändert hat, liegt unter anderem daran, dass sich das Funktionieren der politischen Strukturen aus dem Funktionieren der ökonomischen ergibt - und nicht nur den Recherchen von Jürgen Roth zufolge ist die Organisierte Kriminalität im Kosovo "der einzig wachsende und profitable Wirtschaftsfaktor". Auch deshalb, weil gegischsprachige Gruppen laut Jane's Intelligence Review große Teile des Heroin- und Mädchenhandels in Europa kontrollieren. Zu diesem Ergebnis kam auch der IEP-Bericht, in dem es heißt, "bereits heute stellt 'Mafiaboss' den meistgenannten Berufswunsch von Kindern und Jugendlichen dar" (vgl. Klares Votum für ein unabhängiges Mafiastan).

Der Aufbau einer Justiz scheiterte an Bestechung, Einschüchterung, Clanwirtschaft und dem informellen Kanun-Recht. Der Kanun trägt ein gewaltlegitimierendes Ehrkonzept ("Besa") und die Pflicht zur Blutrache ("Gjakmaria") im Mittelpunkt. Die Vorstellung, dass er mit der Zeit von alleine verschwinden würde, stellte sich als verhängnisvolle Fehlspekulation heraus: Er ist kein archaisches Recht, sondern entstand erst zu Beginn der osmanischen Besatzungszeit. Dort bildete er ein Gegen- bzw. ein Parallelrecht zum offiziellen osmanischen Recht. Dieses 500jährige Gedeihen im Schatten einer anderen Rechtsordnung lässt Vorstellungen fragwürdig erscheinen, dass die Bevölkerung ohne weiteres Zutun eine mit der westlichen Welt kompatible Rechtsordnung übernehmen würde. Die IEP-Studie befand zur Rolle des Kanun im Kosovo:

Die Dominanz dieser Rechtspraxis erstickt dabei jedweden S[ecurity]S[ystem]R[eform]-Prozess im Keim, da die Regeln des Kanun bereits vom Ansatz her einer Etablierung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen zuwider laufen.