Fraktionszwang bei der Ehe-für-alle-Abstimmung aufgehoben

Führerprinzip heute. Foto: Armin Linnartz. Lizenz: CC BY-SA 3.0

In der politischen Kultur der Bundesrepublik haben sich Praktiken etabliert, die das Grundgesetz eigentlich nicht vorsieht

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Heute stimmt der Bundestag nicht nur über Heiko Maas' NetzDG gegen "Hate Speech" und "Fake News" ab, sondern auch über die etwas missverständlich "Ehe für alle" benannte Gleichstellung auf Dauer angelegter staatlich geförderter Partnerschaften von Homosexuellen mit denen von Heterosexuellen. Zu der Abstimmung kam es, nachdem alle drei möglichen Koalitionspartner der Union die Angelegenheit zu einer Koalitionsbedingung erklärten, worauf hin Angela Merkel sie zu einer Sache machte, bei der Abgeordnete ihrem Gewissen folgen könnte.

Eigentlich schreibt das Grundgesetz in Artikel 38 vor, dass Abgeordnete ausschließlich ihrem Gewissen folgen müssen - keiner Kanzlerin oder Parteivorsitzenden. Tatsächlich können sie das auch - aber meistens nicht sehr lange. Stimmt ein Abgeordneter öfter einmal nicht mit seiner Fraktion, dann sind seine Karriereoptionen begrenzt. In der Praxis kommt das alleine schon deshalb selten vor, weil die Abgeordneten über eine "Ochsentour" in den Parteigliederungen bewiesen haben, dass sie sich auch ohne Rechtspflicht informell an Hierarchien halten und gehorchen.

Kompromat

Ausnahmen kann ein Fraktionsführer im Bedarfsfall mit Informationen umstimmen, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen - mit so genanntem "Kompromat". Darüber wann das der Fall ist, kann man nur mutmaßen, weil keine Seite ein Interesse daran hat, so etwas zu bestätigen. Aus rechtlichen Gründen findet sich eine Debatte dieses Phänomens deshalb vor allem in fiktionalen Inhalten wie der Serie House of Cards. Trotzdem kommt es auch in der nichtfiktionalen Politik immer wieder zu überraschenden Rücktritten, deren Erklärungen nicht unbedingt überzeugend wirken. Eine weitere Methode, den theoretisch nicht existierenden Fraktionszwang praktisch zu erzwingen, sind undatierte Blanko-Rücktrittserklärungen, wie sie der ehemalige SPD-Fraktionschef Herbert Wehner gerüchtehalber von Abgeordneten gefordert haben soll (vgl. Parlamentarier im Würgegriff des Fraktionszwangs).

Begründet wird die angebliche Notwendigkeit eines Fraktionszwangs meist "mit dem Hinweis, dass die Fraktionen im Bundestag nur handlungsfähig sind, wenn die Abgeordneten nicht kreuz und quer abstimmen." Eine Begründung, die unter anderem den Lawblogger nicht wirklich überzeugt. Er meint, "dass gerade die Möglichkeit, bei wichtigen Sachfragen auch Koalitionen über die Fraktionsgrenzen zu schmieden, der äußeren Wahrnehmung des Bundestages sicher nicht schaden würde."

Andere Methoden, der Öffentlichkeit den Fraktionszwang zu verkaufen, bestanden darin, den Begriff durch besser klingende Euphemismen zu ersetzen. Dabei hatte die an preußische Sekundärtugenden erinnernde "Fraktionsdisziplin" deutlich mehr Erfolg als die sozialdemokratische "Fraktionssolidarität". Ähnlich begrenzt war der Erfolg von Parteiethikern, ein von einem Abgeordneten persönlich für falsch gehaltenes Abstimmen in einer Einzelfrage als richtige Gewissensentscheidung zu präsentieren, da sein Gewissen das wichtigere Parteiwohl mit berücksichtigen müsse.

"Chabos wissen, wer der Babo ist"

Der informelle Charakter des Fraktionszwangs ist ein Grund dafür, dass sich kaum gerichtlich gegen ihn vorgehen lässt. Gleiches gilt für die real existierende Kommandokette, die es nicht nur in der CDU gibt (wo Kanzlerin Merkel im Alleingang gegen Parteitagsbeschlüsse zur Energie-, Migrations- oder Familienpolitik entschied), sondern auch in der SPD, wo der nicht einmal im Bundestag sitzende Kanzlerkandidat Martin Schulz Anfang der Woche den SPD-Fraktionsantrag zur Abstimmung über die "Ehe für alle" in einer Art und Weise verkündete, die erwarten lässt, dass die vorherige Rücksprache mit Abgeordneten begrenzt gewesen sein könnte.

Dabei schreibt Artikel 21 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes eigentlich vor, dass die "innere ordnung" von Parteien "demokratischen Grundsätzen entsprechen" muss. Das beinhaltet eine Willensbildung von unten nach oben - und nicht umgekehrt und in einer Weise, die man früher "Führerprinzip" nannte. Auch diesen eigentlich verbotene Kommandoketten lässt sich gerichtlich schwer beikommen, so lange auch untere Parteichargen aus Karriere- oder anderen Erwägungen heraus mehrheitlich kein Interesse daran haben, sie zu ändern.

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