"Die etablierten Parteien verirren sich im Wust des Populismus"

Der Sozialpsychologe Harald Welzer über die offene Gesellschaft, den "Seehofer-Effekt" und die Krise der Grünen

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Die Politik der Angst bestimme die öffentliche Meinung, es sei es an der Zeit, den verrückten Marsch nach rückwärts aufzuhalten, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer. In seinem Buch "Wir sind die Mehrheit" warnt er vor einer Hysterisierung von Diskussionen und appelliert zugleich an jeden Einzelnen, sich mehr einzumischen. Denn: "Offene Gesellschaften geraten nicht in Gefahr, weil sie zu viele Feinde haben, sondern weil sie zu wenige Freunde haben, die sich zu ihr bekennen."

Herr Welzer, haben Sie lange darüber nachgedacht, ob Sie Horst Seehofer in Ihrem Buch derart viel Raum geben?

Harald Welzer: (lacht) Da mich die politischen Interventionen von Horst Seehofer und seiner Partei schon seit geraumer Zeit beschäftigen, habe ich darüber nicht lange nachgedacht, nein.

Sie schreiben Sätze wie: "Seehofer bildet den personifizierten Tiefpunkt der politischen Kultur der heutigen Bundesrepublik" und: "Er gehört zu den Totengräbern der Demokratie"...

Harald Welzer: Was keine Übertreibung ist. Dem Mann fehlt jeder Anstand, ja sogar das ganz normale moralische Grundgerüst.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Harald Welzer: Wer wenige Tage nach dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz in seiner Trauerrede sagt, wir seien es den Opfern und der gesamten Bevölkerung schuldig, unsere Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik zu überdenken und neu zu justieren, der handelt schlicht bösartig.

Kann man die offene Gesellschaft verteidigen, indem man diejenigen, die man als eine Gefahr betrachtet, auf diese Art attackiert?

Harald Welzer: Ich bin ein historisch arbeitender Wissenschaftler und beschäftige mich schon lange damit, wie Gesellschaften ins Rutschen geraten. Die historische Erkenntnis ist, dass die Radikalen dabei nicht das große Problem sind, sondern diejenigen, die die Themen und Begriffe der radikalen Ränder in die Mitte der Gesellschaft tragen. Und genau das hat die CSU in einem geradezu obszönen Ausmaß getan - immer und immer wieder. Und zwar ohne dass dafür irgendein Grund vorgelegen hätte. Gegen diese Form der populistischen Instrumentalisierung von Inhalten muss man sich als Demokrat wehren. Und das ist, wie ich finde, bislang nicht mit der notwendigen Vehemenz geschehen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie sich eine neue Art von Aggressivität in die Gesellschaft eingeschlichen habe. Daher noch einmal anders gefragt: Wie passt die Aussage, Seehofer sei ein "scheinbarer Gegner" der Terroristen, zu Ihrem Appell, im Alltag müsse abgerüstet werden?

Harald Welzer: So wie Sie das jetzt wiedergeben, habe ich das, glaube ich, nicht geschrieben. Ich habe das nicht auf die Person bezogen, wenn ich mich richtig erinnere.

Nach der Passage, man müsse aufhören, den Mördern öffentliche Bühnen zu bauen, schreiben Sie den Satz: "Und da sind ihre scheinbaren Gegner: die Pretzells und Seehofers ...".

Harald Welzer: Mir geht es um die Wechselseitigkeit der unterschiedlichen Akteure. Beide Seiten, Rechtspopulisten und islamistische Terroristen, brauchen einander, um erfolgreich zu sein. Die Wut und der Hass schaukeln sich hoch. Genau darauf setzen auch die wirren Köpfe der AfD.

Was folgt daraus?

Harald Welzer: Man sollte weder selbst zündeln noch das Zündeln anderer verharmlosen. Es gibt Kräfte, die warten nur auf ihre Chance, Demokratie abzubauen. Die offene Gesellschaft muss dagegenhalten, denn die Demokratie ist eine Regierungsform, die prinzipiell immer gefährdet ist.

"Die Parteien operieren ängstlich"

Sähen Sie die Demokratie in Deutschland in Gefahr, wenn die AfD in den Bundestag einzöge?

Harald Welzer: Das würde mir keine schlaflosen Nächte bereiten. Unsere Demokratie hielte das aus. Ich würde allerdings auch nicht von einem Gewinn für die Demokratie sprechen, wenn die AfD im Bundestag mitmischte. Ich halte sie für eine gefährliche Partei, die politisch bekämpft werden muss.

Und wie genau?

Harald Welzer: Die Themen, die sie setzen, sind marginal. Daher mein Appell an die etablierten Parteien: Nehmt den Radikalen nicht ständig die Themen weg, sondern setzt endlich mal wieder eigene! Wer die Sprüche der AfD übernimmt, begeht einen Riesenfehler; er macht die Partei damit geradezu diskursfähig.

Sie halten einen politischen Diskurs mit der AfD für falsch?

Harald Welzer: In der Tat. Da sind wir wieder beim Seehofer-Effekt. Offensichtlich glauben die Parteien nicht an ihre Gestaltungskraft, sie operieren umfrageorientiert und aktualistisch, ja geradezu ängstlich. "Aha, daher weht der Wind, tja, dann machen wir halt das Gleiche wie die AfD." Das ist verheerend! Sie treffen Entscheidungen, die auf einer vollkommen falschen Analyse fußen.

Wie lautet diese Analyse?

Harald Welzer: Dieselben Leute sind überzeugt, der Wind käme von rechts und die Mehrheit spränge auf derartige Slogans an. Derlei ist empirisch aber in keiner Weise belegt. Die etablierten Parteien fahren also einen Kurs, der nicht Richtung Ziel führt, sondern sie verirren sich im Wust des Populismus. Mitmachen um jeden Preis - das kann es doch nicht sein! Ich erwarte von einer demokratischen Partei, dass sie mir sagt, welche Themen in der Zukunft unseres Landes eine entscheidende Rolle spielen.

Je radikaler Politiker formulieren, desto schlechter fallen deren Wahlergebnisse aus - richtig oder falsch?

Harald Welzer: Da ist was dran. ja. Die Mehrheit der Bürger stößt das ab. Schauen Sie nach Österreich: Den Leuten ist das verbale Aufrüsten im Wahlkampf irgendwann total auf die Nerven gegangen, was sicherlich auch ein Grund dafür ist, weshalb Norbert Hofer verloren hat (Bundespräsidentenwahl im Dezember 2016, Anm. d. Red.). Eine viel größere Rolle spielt bei uns derzeit allerdings der Trump-Effekt.

Inwiefern?

Harald Welzer: Da hat die Verführung des rechten Populismus gewissermaßen ihre Verkörperung gefunden. Diejenigen, die dachten, man müsse es den Etablierten mal so richtig zeigen, sehen nun, was sie angerichtet haben; was passiert, wenn so ein Neurechter an den Hebeln sitzt. Bei uns im Land hat Trumps Dilettantismus zu einem Umschwung in der politischen Alltagskultur geführt. Ob Parteieintritte, "Pulse of Europa" oder diverse Initiativen - da tut sich zurzeit eine Menge. All dies ist eine Reaktion auf Trump, und zwar genau die richtige.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz setzt im Wahlkampf auf "soziale Gerechtigkeit". Seine Konkurrenten sprechen von einem "linken Populismus".

Harald Welzer: Wir wissen nicht, ob das Strohfeuer sind. Wir wissen auch nicht, wie Herr Schulz seinen neuen Lieblingsbegriff operationalisieren würde. Kurz: Ob all das tragfähig ist, wird sich zeigen.

Sie haben da offenbar Ihre Zweifel.

Harald Welzer: Absolut. Es ist doch kein Zufall, dass die sich vor dem erwartbaren Erfolg gegenseitig betrunken machenden Sozialdemokraten zuletzt bitter enttäuscht wurden. Die Euphorie der Mitglieder spiegelt sich nicht in den Landtagswahlergebnissen wider.

Woran liegt das?

Harald Welzer: Die Wähler vergessen nicht so schnell. Und sie sind skeptisch, wenn eine Partei, die seit Jahren mitregiert, sich von einem Tag auf den anderen einen frischen Anstrich verpasst. Insgesamt können wir den Sozis aber dankbar sein, dass sie den Schulz aus dem Zylinder gezogen haben. Das Coole an den Diskussionen und der ganzen Aufregung ist nämlich, dass die Rechtspopulisten derzeit nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das ist übrigens ein weiterer Beleg für meine Grundthese im Buch: Wenn man den Leuten keine Beachtung schenkt, sind sie ganz schnell wieder weg vom Fenster. Is' doch schön!

Wie erklären Sie die Tatsache, dass die Rechtspopulisten in unseren Nachbarländern deutlich erfolgreicher sind als in Deutschland?

Harald Welzer: Wir befinden uns in einer wirtschaftlich glänzenden Phase und haben zugleich die Situation, dass es im Land eine stabile demokratische Mehrheit gibt, die sich in einer aktiven Bürgerschaft zeigt. Und, bei allen Einwänden, wir haben eine Kanzlerin, die relativ souverän über die Krisen hinwegsurft. Die Bürger sollten sich daher nicht verunsichern lassen von radikalen Kräften wie der AfD. Insgesamt geht es uns nämlich gut in Deutschland.

Herr Welzer, im Bundestag sitzen 64 Abgeordnete der Linkspartei. Wäre der Einzug einer rechtspopulistischen Partei ins deutsche Parlament nicht einfach nur die logische Folge?

Harald Welzer: Man sollte in einer Demokratie niemals mit dem Feuer spielen. Dieses Spiel ist nämlich saugefährlich. Das Referendum der Türkei zeigt uns, wie schnell etwas kippen kann, das man zuvor für selbstverständlich hielt. Diejenigen, die über solch schwachsinnige Vorhaben abstimmen lassen, fühlen sich den demokratischen Gepflogenheiten nämlich nicht unbedingt verpflichtet, um es vorsichtig zu formulieren.

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