"Erdogan wird bewusst, dass sein Abstieg begonnen hat"

Recep Tayyip Erdoğan. Bild: CC 1.0

Der Journalist und Filmemacher Osman Okkan über die Lage in der Türkei und die problematische Haltung der Bundesregierung

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Der erste Jahrestag des Putschversuchs in der Türkei naht. Erneut will Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seine Anhänger mobilisieren und auf den Straßen und Plätzen "Demokratie-Mahnwachen" abhalten. Zugleich marschiert die Opposition mit inzwischen gut 20.000 Menschen von Ankara nach Istanbul, um gegen die Politik der AKP zu protestieren, die weiterhin gut 1000 Personen pro Woche festnehmen lässt und jeden, der Kritik wagt, zum Terroristen erklärt.

Der Journalist und Filmemacher Osman Okkan kennt die Lage in der Türkei gut. Er hat die großen Intellektuellen des Landes filmisch portraitiert: Von Yasar Kemal über Orhan Pamuk bis Asli Erdogan. Er ist Mitgründer des Kölner Hrant Dink Forums, das an den 2007 in der Türkei ermordeten armenischen Journalisten erinnert - und hat gemeinsam mit der Lit.Cologne einen Rechtshilfefonds ins Leben gerufen, der Inhaftierte in der Türkei unterstützt.

Im Gespräch mit Telepolis sieht er die Türkei an einem Scheidepunkt: Erdogans Abstieg habe mit dem Verfassungsreferendum begonnen. Von der Bundesregierung erwartet er einen Kurswechsel und eine klare Haltung. Sie dürfe sich nicht durch den Flüchtlingsdeal zur Geisel machen lassen.

Die größte Oppositionspartei CHP wagt den Aufstand gegen Erdogan. Sie veranstaltet einen Protestmarsch von Ankara nach Istanbul, hält ihre Parlamentssitzungen in der Öffentlichkeit ab und will ein überparteiliches Signal für Gerechtigkeit senden, dem sich auch die HDP angeschlossen hat. Wie schätzen Sie diese Aktion ein?

Osman Okkan: Ich denke, das ist ein wichtiger und überfälliger Schritt und ein gutes Zeichen, gerade auch wegen der Erklärung der HDP, die Aktion zu unterstützen, nachdem sie sich erst zurückgehalten hatte. Die CHP hat zu spät reagiert, erst nachdem sie selbst durch die Verhaftung ihres Abgeordneten Enis Berberoglu betroffen war. Trotzdem hat sich nun die gesamte Opposition richtig positioniert. Auf so ein überparteiliches Zeichen hat man lange gewartet. Es wird deutlich, dass sich gut die Hälfte der Menschen in der Türkei gegen die AKP auflehnt.

Wird dieser Protestmarsch etwas verändern können?

Osman Okkan: Er könnte etwas bewegen, er ist ein Startsignal für eine Opposition, die sich zuvor nicht erhoben hat. Er zeigt, dass friedlicher Protest möglich ist, das gibt auch für andere Gruppen neue Impulse. Selbst AKP-Anhänger gehen inzwischen auf Distanz zur eigenen Führung, die versucht, den Marsch als Unterstützung für Terroristen zu brandmarken. In den Reihen der AKP fängt man langsam an, Erdogans Mittel infrage zu stellen.

Derzeit sind wieder Stimmen zu vernehmen, die Erdogan in Bedrängnis sehen und glauben, dass er seinen Kurs nicht ewig so fortsetzen kann. Ist das realistisch?

Osman Okkan: Erdogan ist schon seit dem Verfassungsreferendum im April in einer schwierigen Lage. Da musste er erstmals erleben, dass 50 Prozent der Bevölkerung nicht mehr hinter ihm stehen, dass das Ausland und sogar arabische Staaten auf kritische Distanz zu ihm gehen. All das sind deutliche Anzeichen für eine Isolierung. Ihm wird bewusst, dass sein Abstieg begonnen hat.

Zehntausende Menschen sind in der Türkei in Haft, weil sie in Opposition zur Regierung stehen, es herrscht Willkür. Welche Chancen haben diese Menschen? Können sie noch auf einen fairen Prozess hoffen?

Osman Okkan: Das glaube ich nicht, denn es gibt im Justizapparat kaum noch Juristen, die zu selbständigen Urteilsfindungen fähig sind. Seit den Säuberungen geht die Justiz mit dilettantischen Methoden vor, die rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechen, und das wird noch zunehmen. Aber der Druck der Öffentlichkeit und des Auslands, die genaue Beobachtung der Prozesse und der Kontakt zu Inhaftierten und ihren Anwälten kann ein Versuch sein, diesen Menschen zu helfen.

Trotz dieser Entwicklungen hält sich die Bundesregierung auffällig zurück und will die Partnerschaft mit der Türkei nicht gefährden. Woran liegt das?

Osman Okkan: Das dürfte vor allem an den anstehenden Bundestagswahlen liegen. Der Flüchtlingsdeal ist eine Erpressungsmaßnahme Erdogans, die aufgegangen ist. Tatsächlich leistet die EU heute viel mehr, als sie im Rahmen des Deals zugesagt hat. Sie nimmt mehr Geflüchtete auf als vereinbart, Hilfsgelder kommen nicht wie vorgesehen direkt den Hilfsorganisationen zugute, sondern landen zum großen Teil bei der türkischen Regierung.

Es ist untragbar, dass man sich damit zur Geisel gemacht hat. Wenn man der türkischen Bevölkerung helfen will, muss man eine klare Haltung zeigen, man muss deutlich machen, dass man zu Unrechtsstaaten anders steht als zu demokratischen Partnern, zum Beispiel indem man die Waffenlieferungen stoppt. Die Gegenseite muss das verstehen, dass man sich nicht erpressen lässt, deshalb ist Appeasement nicht angebracht.