Studie: Welt wurde seit 1960 um zwölf Prozent individualistischer

Grafik: TP

China entwickelt sich gegen den Trend

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In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Psychological Science hat ein Team um den an der kanadischen University of Waterloo forschenden Psychologen Henri Santos die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, der zufolge der Individualismus in den letzten 57 Jahren weltweit um zwölf Prozent zunahm.

Dazu untersuchten sie aus 77 Ländern Handlungen und geäußerte Wertvorstellungen, die ihrer Ansicht nach Rückschlüsse auf mehr oder weniger Individualismus zulassen hinweisen - zum Beispiel die durchschnittliche Größe der Haushalte, der Anteil von Singles und die Scheidungsrate: Steigt letztere an, deutet das ihrer Ansicht nach auf mehr Individualismus hin. Die Länder wählten die Wissenschaftler danach aus, ob genügend und ausreichend alte Daten in den internationalen Datenbanken Integrated Public Use Microdata Series (IPUMS) und World Values Survey (WVS) zur Verfügung standen.

Unter diesen Ländern gab es nur vier, in denen die Verhaltensmarker auf eine Abnahme des Individualismus hinweisen. Drei davon liegen in Afrika: Mali, Malawi und Kamerun, das vierte, Malaysia, in Südostasien. Bei den Wertvorstellungensmarkern entwickelte sich außer Armenien, Kroatien, der Ukraine und Uruguay auch China gegen den Welttrend, als dessen wichtigsten Wachstumsfaktor die Autoren der Studie die ökonomische Entwicklung sehen. Dass das im Falle von China mit den Fakten zu kollidieren scheint, räumen sie ein und meinen, dass es sich deshalb lohne, "dieses Land in Zukunft genauer zu untersuchen".

Gemeinschaftssinnfördernder Reis und individualismustoleranterer Weizen

In der Vergangenheit versuchte das unter anderem ein Team um den Verhaltensforscher Thomas Talhelm von der Booth School of Business an der University of Chicago, der für seine 2014 in Science veröffentlichte Studie Large-Scale Psychological Differences Within China Explained by Rice Versus Wheat Agriculture Unterschiede zwischen Reis- und Weizenanbauregionen in China ausmachte und die Hypothese aufstellte, dass der wesentlich mehr von arbeitsintensiver Bewässerung abhängige Reis die Entwicklung einer "Psychokultur" fördert, die den Gemeinschaftssinn höher bewertet.

Sechs Jahre vorher hatte der britische Evolutionspsychologe Corey Fincher die Hypothese aufgestellt, dass sich der in Ostasien beobachtete stärkere Gemeinschaftssinn wegen möglicher Vorteile bei der Abwehr von Infektionskrankheiten durchgesetzt haben könnte. Kurz darauf entdeckten die die Amerikanerinnen Joan Y. Chiao und Katherine D. Blizinsky, dass es auch genetische Unterschiede gibt, die mit einer stärkeren oder weniger starken Neigung zum Individualismus zu tun haben könnten: In Ostasiaten weisen 70 bis 80 Prozent eine kürzere Variante eines Serotonin-Transporter-Gens auf, in Europa nur 40 bis 45 Prozent.

Oberster Wert von Gegenkulturen und Geschäftsleuten

Ältere Erklärungsansätze konzentrieren sich vor allem auf die USA, deren zunehmende Loslösung von familiären, sozialen und politischen Bindungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter anderem der Harvard-Soziologe Robert Putnam in seinem Klassiker Bowling Alone beschrieb. Der Literaturwissenschaftler Harold Bloom sah diesen Individualismus als neuen Gnostizismus, in dem sich narzisstische Individuen als Teil des Göttlichen erkennen.

Der Soziologe Ronald Dworkin stellte dagegen einem traditionellen amerikanische Individualismus des 19. Jahrhunderts, der sich in einen transzendentalen Kontext als göttliches Werkzeug bei der Verwirklichung der Utopie Amerika gestellt sah, einen im Laufe des 20. Jahrhunderts entstandenen und aus diesem transzendentalen Kontext gelösten "expressiven Individualismus" gegenüber, den sowohl Gegenkulturen als auch Geschäftsleute als obersten kulturellen Wert hegen.

In Europa beschäftigten sich vorher unter anderem die Soziologen Georg Simmel und Émile Durkheim mit der Individualisierung, die sich an Kulturgütern wie Gemälden und Romanen beobachteten und vor allem ökonomisch zu begründen versuchten: Wer nicht mehr in einer großfamiliären Landwirtschaft tätig bleiben muss, sondern durch technologische Entwicklungen, Arbeitsteilung und Geldwirtschaft andere Überlebensoptionen hat, der fühlt seine Grenzen eher am eigenen Körper oder Geist, als an einer Familie, einem Clan oder einem anderen Kollektiv.

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