Syrien: Sind die Kurden die "fünfte Kolonne" Washingtons?

YPG-Einheiten bei der Rakka-Offensive. Screenshot, YPG-Video, Twitter

Die Gefahr einer Instrumentalisierung der Kurden in Nordsyrien und im Irak ist real

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Seitdem die USA die nordsyrischen, demokratischen Kräfte (SDF) mit Waffen und militärischen Equipment für den Kampf gegen den IS ausrüsten, befürchten viele, dass sich insbesondere die Kurden vor Amerikas Karren spannen lassen. Es wird befürchtet, dass sie von den USA benutzt werden, um in Syrien einen Regimewandel herbeizuführen. Das Assad-Regime wirft ihnen vor, die Zerstückelung Syriens als Söldner der USA voranzutreiben.

Die Kurden der syrischen YPG/YPJ, welche die stärkste Kraft innerhalb der SDF sind und die türkische PKK, die in den Kandil-Bergen im Nordirak ihren Hauptsitz hat, bezeichnen die Zusammenarbeit als strategisches, temporäres Bündnis. Ihnen gehe es weder um Regimewandel noch um die Abspaltung der kurdischen Siedlungsgebiete.

Sie wollen keinen eigenen Staat, sondern sie setzen sich - anstelle der Zentralregierungen, an deren Spitze jeweils Despoten sitzen - für ein demokratisches, föderales Staatenmodell im Nahen Osten ein. Aber wie realistisch ist ein föderales Modell in Syrien und wie groß ist die Gefahr einer Instrumentalisierung der Kurden durch die USA? Diese Fragen diskutierten die Journalisten Karin Leukefeld und Nick Brauns auf einer Veranstaltung der Tageszeitung Junge Welt.

Sind die Kurden in eine Falle der USA getappt?

Karin Leukefeld vertrat die These, dass sich die Kurden zwar nicht zum Helfershelfer der USA gemacht hätten, aber dass es nur vordergründig um den Kampf gegen den IS ginge. Seit 2014 gäbe es eine Zusammenarbeit von YPG/YPJ und später SDF mit den USA. Wenn es der PYD nicht um einen Regimewechsel gehe, warum würde dann der Kampf gegen den IS nicht gemeinsam mit der syrischen Armee und ihren Verbündeten (Russland, Iran, Hisbollah) geführt?

Wenn die nordsyrische Föderation sich nicht von Syrien abspalten wolle, wie es Barzani im Nordirak vorhabe, sei es doch logisch, gemeinsam gegen den IS zu kämpfen und eine politische Neuordnung Syriens mit allen Syrern zu verhandeln, so Leukefeld. Sie verweist auf die vielfältige Organisierung der Kurden in ganz Syrien, die von den verschiedenen kommunistischen Parteien in Syrien über die nordirakische Partei Barzanis, KDP bis hin zur "Nationalen Koalition oppositioneller und revolutionärer Kräfte in Syrien", ETILAF, mit Sitz in Istanbul reiche. Die konservative ETILAF, die sich gerne als Exilregierung bezeichnet, spielt in Nordsyrien praktisch keine Rolle

Die PYD, als stärkste Partei unter den syrischen Kurden, ist ideologisch eng mit der PKK verbunden. Diese hatte zwischen 1979 und 1998 auch Stützpunkte in Syrien und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan hielt sich in dieser Zeit in Syrien auf. Aber der PKK war unter Baschar Al-Assads Vater, Hafes al-Assad, politische Propaganda für eine kurdische Bewegung untersagt.

Eine sich selbst überlassene Region organisiert sich selbst

Wie es zur Kooperation der Anti-IS-Allianz mit den SDF kam, lässt sich allerdings nur durch die Entwicklungen der letzten Jahre erklären. Unter der Herrschaft von Hafes al-Assad war jegliche politische Organisierung auf der Grundlage religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit verboten. Die kurdische Sprache war verboten, viele Kurden waren staatenlos, weil ihnen und ihren Nachkommen in den 1960er Jahren die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt worden war.

Im Oktober 1962 ließ die syrische Regierung eine außerordentliche Volkszählung für die Provinz Hasaka durchführen. In ihrer Folge verloren rund 120.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit und damit grundlegende Bürgerrechte. Die Zahl stieg im Laufe der Jahre auf über 300.000. Erst seit 2011 gibt es die Möglichkeit der Wiedereinbürgerung.

Diese Diskriminierungen sowie die Arabisierungspolitik des Baath-Regimes begründen das tiefe Misstrauen der Kurden gegen das syrische Regime. Trotzdem lehnte die PYD den bewaffneten Aufstand des arabischen Frühlings 2011 ab. Sie setzte auf politischen Widerstand und bildete ein Bündnis mit anderen syrischen-kurdischen Organisationen, darunter auch Barzanis KDP-S, die aber jegliche Gespräche mit dem Assad-Regime ablehnten.

2013 bildete die PYD eine Übergangsverwaltung, die syrische Armee zog sich bis auf Stützpunkte in Qamishlo und Hasaka aus Nordsyrien zurück. Die Menschen in der Region waren sich selbst überlassen, es herrschten chaotische Verhältnisse. 2014 wurden die Kantone Cizire, Kobane und Afrin ausgerufen und man begann mit dem Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen.

Im September 2014 griff der IS Kobane an. Die Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ leisteten mit ihren veralteten, leichten Waffen erbitterten Widerstand. Zigtausende Menschen flohen nach Aleppo und in die Türkei, die nur zögerlich ihre Grenze öffnete. Die Türkei stellte sich auf die Seite des IS und rüstete ihn mit Waffenlieferungen auf. Der heute in Berlin lebende Chefredakteur der oppositionellen türkischen Zeitung Cumhurriyet deckte dies als Erster auf. Die Türkei ließ über dies auch verwundete IS-Terroristen in eigens dafür eingerichteten Abteilungen in türkischen Krankenhäusern behandeln (vgl. Kobane: Die Lage ist verzweifelt).

Die syrische Armee war durch die vom IS eroberten Gebiete abgeschnitten und zudem nicht gewillt, den Kurden zur Hilfe zu eilen. Sie argumentierte, dass die syrische Luftwaffe Kobane nicht unterstützen könne, da sie so nahe an der türkischen Grenze Gefahr laufe, von der türkischen Luftabwehr abgeschossen zu werden.

Der Beginn der Zusammenarbeit der YPG mit den USA

Russland sah damals auch keine Notwendigkeit, einzugreifen. Kobane wäre damals gefallen, hätten die USA nicht in letzter Minute Luftunterstützung gegeben. Das ermöglichte es den nordirakischen Kurden Barzanis mit ihren Autonomiebestrebungen, sich einen Platz im westlichen Bündnis zu sichern. Sie wollten ihren kurdischen Brüdern und Schwestern zu Hilfe kommen - um ihre eigene Partei in Nordsyrien zu stärken und um ein Gegengewicht zu den basisdemokratischen Bestrebungen der PYD zu schaffen.

Die Türkei als wichtigster ökonomischer Partner Barzanis ließ denn auch zähneknirschend die Einheiten der Peschmerga über ihr Staatsgebiet nach Kobane. Dies wurde von allen Kurden und Kurdinnen begeistert aufgenommen und gefeiert, denn die kurdische Bevölkerung jenseits der politischen Eliten denkt erst mal solidarisch in der kurdischen Frage und dann wird über politische Differenzen gestritten.

Die Anti-IS-Allianz begann damals, die Kurden im Kanton Kobane durch Luftschläge zu unterstützen. Dies war der Beginn der Zusammenarbeit der YPG mit den USA. Die Kurden lieferten der Anti-IS-Allianz die Koordinaten über IS-Standorte in der Region. Mehrere US-Delegationen besuchten fortan die Region und es gab Absprachen mit US-Militärberatern vor Ort.

Zwar tat sich die Obama-Administration mit der Unterstützung der Kurden schwer, sie wollte Ankara nicht zu sehr verärgern, aber im Kampf gegen den IS hatte sie außer den Kurden keine verlässlichen Partner. Die Erfolge von YPG/YPJ und später der SDF führten dazu, dass sich immer mehr arabische Stämme und lokale Milizen den SDF anschlossen.

Erste US-Militärbasen entstanden dann bei den Ölfeldern von Rumeilan und in Hasaka auf alten Rollfeldern von Agrarflugplätzen. Es folgten kleine Landeplätze bei Qamishlo, Derik, Tel Abjad, Manbij, und zuletzt am Tabka-Damm in der Nähe von Rakka. Bei Kobane wurde eine Landebahn für schwerere Transportflugzeuge gebaut.

Karin Leukefeld sieht in dieser Entwicklung ihre These von den "Bodentruppen Washingtons" bestätigt. Die SDF und PYD seien letztlich nur für die Verfolgung der geopolitischen Ziele der USA nützlich: dem Regimewandel in Damaskus.

Es ging um die Teilung der Region und um die Schwächung des syrischen Staates, die nur durch die Intervention Russlands, Irans und der Hisbollah auf Seiten des syrischen Staates verhindert wurde. Nur der syrische Staat habe das Recht, sich Hilfe von anderen Staaten zu holen, meint Leukefeld. Die Zusammenarbeit lokaler Kräfte mit anderen Staaten verstoße gegen das Völkerrecht.

Nick Brauns hingegen argumentiert so: Wenn der Staat nicht mehr in der Lage oder gewillt sei, seine Bürger vor der Vernichtung (vom IS) zu schützen, wie dies in Nordsyrien der Fall war, dann habe diese Bevölkerung das Recht, die Hilfe ausländischer Kräfte anzunehmen.