Detour im Donbass

Ein Haus in Slowjansk. Foto: Jens Malling

Eine Reportage aus dem ostukrainischen Konfliktgebiet

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Früher dauerte die Fahrt zwischen Slowjansk und Mariupol weniger als fünf Stunden. Aber aufgrund des Krieges in der östlichen Ukraine muss der Minibus nun einen großen Bogen machen, um die von den Separatisten kontrollierten Stadt Donezk zu vermeiden, sodass die Reise fast einen ganzen Tag in Anspruch nimmt. Für die Passagiere ist die Teilung ihres Landes zum Alltag geworden.

Der Wind weht den Staub unter das hohe Schutzdach hinein. Eine Lautsprecherstimme verkündet Abfahrten zu verschiedenen Zielen im Donbass. Ein Wirrwarr von Taschen und Beuteln umgibt die Reisenden auf den Bänken. In regelmäßigen Abständen husten ausgediente Minibusse ihren Weg durch den bitterkalten Morgen und kommen an der Busstation Slowjansks an. Sweta Nikolajewja wärmt sich bei einer Tasse Tee an einer der Plattformen. "Ich hoffe nur, dass ich es heute nach Hause schaffe - wenn alles glatt geht, komme ich wahrscheinlich um 20 Uhr an", sagt sie.

Sweta lebt in Makejewka. Auf der direkten Hauptstraße entlang befindet sich die Stadt nicht viel mehr als 120 Kilometer entfernt von Slowjansk. Dennoch geht sie davon aus, neun Stunden auf Reisen zu sein - im besten Fall. Slowjansk und Makejewka befinden sich auf verschiedenen Seiten der Frontlinie, die die ukrainischen Regierungstruppen und die prorussischen Separatisten trennen. Die 42-jährige Frau fühlt sich nicht wohl an den zeitaufwendigen Kontrollpunkten an der 'Grenze'. "Es gibt Soldaten und Waffen. Es scheint gefährlich zu sein. Manchmal warte ich vier Stunden, manchmal zehn Stunden. Für gewöhnliche Leute ist es unangenehm", sagt Sweta, die hier auf die ukrainisch kontrollierte Seite reiste, um ihre Verwandten zu besuchen.

Sie nimmt einen Schluck Tee und erzählt über das Leben auf dem Gebiet der Separatisten:

Für einfache Menschen gibt es nicht so viel, das sich verändert hat. Wir zahlen nicht mehr mit der ukrainischen Hrywnja, sondern mit dem russischen Rubel. Die Politiker sind die gleichen, also ist der Unterschied in diesem Bereich nicht so groß. Bei uns in Makejewka ist es seit einiger Zeit ruhiger geworden. Im vergangenen Jahr wurde oft geschossen - ich meine, es wird immer noch sehr viel geschossen, aber es findet nicht länger so nah statt. Es ist weiter weg, Richtung Gorlowka. Bei uns haben die Kämpfe Gott sei Dank ein bisschen abgenommen. Das Leben in Makejewka ist mehr oder weniger das gleiche wie hier.

"Mariupol", tönt nun die metallisch-weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.

Eine ältere Frau erhebt sich von der Bank neben Sweta. Mit Hilfe eines Weggefährten stellt Lidija Tscherkasowa ihre Pakete und Beutel in den Kofferraum des Fahrzeugs, das in Richtung der großen Industriestadt am Asowschen Meer fährt. Sie macht es sich auf einem der blauen plüschigen Sitze bequem. Die starke Sonne dringt nur mühsam durch die Vorhänge und hüllt die halbgefüllte Kabine in ein weiches Licht. Der Motor startet und eine sonderbare Reise beginnt. Sie ist stark von den außergewöhnlichen Bedingungen, die hier in der vom Krieg zerrütteten Ostukraine gelten, beeinflusst.

Früher hat die Fahrt zwischen Slowjansk und Mariupol weniger als fünf Stunden gedauert. Aber aufgrund des Krieges muss der Minibus nun einen großen Bogen machen, um die von den Separatisten kontrollierten Stadt Donezk zu vermeiden. Das bedeutet, dass die Reise nun fast einen ganzen Tag in Anspruch nimmt. Am wichtigsten ist es, den Vorort Marinka westlich von Donezk zu vermeiden, wo schwere Kämpfe toben. Der Fahrer schwingt den Minibus auf die Hauptstraße H20 ein und bewegt sich in Richtung Kramatorsk fort - eine Stadt die ähnlich wie Slowjansk im Frühjahr 2014 hart umkämpft war.

"Nicht so komfortabel"

Bereits auf der anderen Seite Kramatorsks begegnen wir dem ersten Checkpoint. Der Fahrer zickzackt zwischen tarnfarbigen Fahrzeugen, Betonblöcken und Sandsäcken hindurch, bevor er vollkommen abbremsen muss. Schwerbewaffnete Soldaten blicken aufmerksam in den Minibus hinein. Alle männlichen Passagiere müssen das Fahrzeug verlassen und werden für eine aufwendige Überprüfung der Reisedokumente in einen Container geführt. Der Fahrer schimpft wegen der emsigen Soldaten und der verlorene Zeit. Endlich kommt der langwierige Prozess zu einem Ende, und er zwingt das Fahrzeug wieder zu beschleunigen. Die Geschwindigkeit bebt und rasselt durch den Bus. Wenn es dem Fahrer nicht gelingt, ein Schlagloch in der Straße zu vermeiden, trägt der Stoß zur Symphonie bei.

"Es gibt noch viele Kontrollposten entlang der Route, aber es kommt mir vor, als ob sie ein bisschen weniger geworden sind. Letztes Jahr musste man ständig die Dokumente vorzeigen. Oft haben die Soldaten das Gepäck durchgewühlt", tönt die Stimme Lidija Tscherkasovas durch den Lärm. Die 63-jährige Rentnerin ist auf dem Weg von ihrer Heimatstadt Isjum nach Mariupol, um ihre Tochter und ihre Enkelin zu besuchen. Sie zuckt die Achseln darüber, dass die Fahrt länger als üblich dauert:

Was kann man dazu sagen? Es ist nicht so komfortabel. Früher bin ich immer mit dem Zug gefahren. Das war günstiger und bequemer, aber der Zugverkehr ist wegen des Krieges stillgelegt.

In der Zeit kurz nach dem Beginn der Kämpfe war es nicht ohne Nervosität, dass sie an Bord der Marschrutka - wie Ukrainer und Russen diese Art von Verkehrsmittel nennen - stieg:

Die ersten paar Male, die ich zu meiner Tochter reiste, fühlte ich mich ein bisschen eingeschüchtert. Im Fernsehen sehe ich oft, wie sie schießen und was passiert, wenn Minen explodieren. Aber ich denke nicht, dass ich eine Wahl habe. Also fahre ich los und hoffe auf das Beste.

So Lidija, die sich in Slowjansk aufhielt, als die Stadt unter Beschuss war - und sie ergänzt:

Ich war bei meiner Schwester und meinem Neffen. Eigentlich will ich mich nicht an diese Zeit erinnern. Es ist erschreckend und macht mich traurig, dass so was in unserem Land passieren kann.

Um Donezk zu vermeiden, biegt die Marschrutka von der Hauptstraße ab und begibt sich auf ganz schmale Feldwege und Sträßchen weiter. Über weite Strecken kommt dem Minibus kein anderer Verkehr entgegen. Das Motorgeräusch und die harte Federung vibrieren in einem monotonen Rhythmus. Es hat eine beruhigende Wirkung - und bald schläft Lidija auf dem Doppelsitz ein. Donezk 58, Donezk 43, Donezk 47 - auf den Straßenschildern im Halbkreis um die Stadt bleibt der Abstand mehr oder weniger konstant. Der Bus scheppert in die offene Landschaft hinaus, über Hügel und durch Wälder. An mehreren Orten bilden Berge von Schlacke - ein Abfallprodukt der Minenindustrie - ihre eigene seltsame Hügellandschaft.

Detour im Donbass (6 Bilder)

Anton Anisow. Foto: Jens Malling

Die niedrighängende Sonne leuchtet ihnen entgegen, und die Fabriken erheben sich vom Horizont wie düstere Riesen. Dicke Rauchwolken stürzen golden und rosa aus den Schornsteinen. Der dichtbesiedelte Donbass ist für seine Kohleminen und seine Schwerindustrie bekannt, und oft sind die kleinen Bergbaustädte zusammengewachsen. Die Marschrutka macht sich auf den Weg durch diese Szenerie von rostigen Strukturen und heruntergekommenem Material aus der Sowjetzeit. Der Donbass war das schwerschlagende Stahlherz der Sowjetunion, aber diese Region vermochte sich nur mühevoll an die völlig andere Bedingungen des Kapitalismus anzupassen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 war die Zeit von Streiks und tödlichen Unfällen in den Minen geprägt.

Schützengräben und Wachtürme

Eine Tarnuniform und einen dunklen Bart tragend steigt an der Bushaltestelle in der Stadt Kostjantyniwka ein junger Mann ein. Er nimmt einen Fensterplatz und sitzt lange in Gedanken vertieft. Anton Anisow kommt direkt von der Front. Er hat gerade Urlaub bekommen und will seine Mutter in Mariupol besuchen. Das letztes Mal, dass er mit dem Bus fuhr, ist mehrere Monate her, während seines letzten Urlaubs, erzählt der 29-jährige Soldat. Nachdem er so lange in einer Erdhöhle eines Schutzgrabens gelebt hat und sich ausschließlich von Konserven ernährt hat, hat er einen einfachen Wunsch:

Ich freue mich auf richtiges Essen.

Wie sehr der Krieg die Ukraine spaltet, spürt Anton nicht nur an der Front, sondern auch im eigenen Bekanntenkreis:

Vor dem Krieg wohnte ich in Donezk. Meine Freunde von dort haben sich in zwei Gruppen geteilt. Diejenigen, die den Separatismus unterstützen sind geblieben. Die anderen, wie ich, sind schon lange weg. Aufgrund der politischen Ereignisse halte ich die aus der ersten Gruppe nicht länger für meine Freunde.

"Pass auf, jetzt kommt wieder ein Kontrollposten", unterbricht Anton sich selbst. Der Checkpoint markiert den Anfang eines langen und stark befestigten Abschnittes der Landschaft. Über mehrere Kilometer schlängeln sich Schutz- und Panzergräben neben der Straße. In einem Kreisverkehr versperren behelfsmäßige Schlagbäume die Abfahrt nach Marinka, sodass sich Zivilisten nicht zwischen den Konfliktparteien verlaufen können. Militärs tragen Wollmützen, haben Kalaschnikows über ihren Schultern und verschanzen sich auf den Anhöhen. Mehrere Wachtürme in Tarnung gehüllt erheben sich regelmäßig als Teil des Verteidigungswerkes.

Die ukrainischen Regierungskräfte scheinen entschlossen, nicht mehr Land an die Separatisten und ihren russischen Verbündeten abzutreten. Die Sichtbarkeit schwindet und die Dämmerung setzt auf der anderen Seite der Anlage ein. Nebel schwebt über Felder und zwischen kahlem Gebüsch. Wegen der vielen Kurven und der Umwege auf der Route verliert der Reisende die Orientierung. Noch ein paar Stunden bewegt sich die Marschrutka durch den Abend, bevor die ersten Lichter der Vororte von Mariupol schließlich erscheinen.

"Endlich wieder in der Zivilisation", sagt Anton, als der Minibus auf den breiten Prospekten und unter der gelblichen Straßenbeleuchtung dahin fährt.