Der Westen beginnt im Osten der EU

Ukrainische Arbeitsmigranten spielen inzwischen eine wichtige Rolle auf dem polnischen Arbeitsmarkt. Beginnt eine neue Westwanderung?

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Let's go west! Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 haben - die Schätzungen hierüber gehen weit auseinander - zwischen 1,5 und 2,3 Millionen polnischer Arbeitsmigranten ihr Land auf Arbeitssuche gen Westen verlassen.

Diese enorme Westwanderung, die in einer ersten Phase vor allem Großbritannien, Irland, die Niederlande und die skandinavischen Länder mit einem Millionenheer billiger Arbeitskräfte versorgte, hat entscheidend zur Reduzierung des extremen Pauperismus in Polen beigetragen - einem Land, das vor dem Beitritt zur EU unter einer Arbeitslosenquote von bis zu 20 Prozent litt.

Dieser gigantische Migrationsstrom, der rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung Polens erfasste, ist weiterhin nicht versiegt. Immer noch fahren polnische Arbeitskräfte nach Westeuropa, jetzt verstärkt in den deutschsprachigen Raum, um dem niedrigen Lohnniveau östlich der Oder zu entfliehen. Zu den rund zwei Millionen Polen, die bereits dauerhaft im Ausland leben, kommen hunderttausende Arbeitskräfte, die weiterhin mit dem Gedanken an eine dauerhafte Auswanderung spielen.

Laut Umfragen, die von der deutsch-polnischen Handelskammer referiert wurden, nimmt dieser Migrationsdruck aber rasch ab: Spielten im Vorjahr noch 19 Prozent aller Arbeitskräfte mit dem Gedanken der Auswanderung, seien es in diesem Jahr nur noch 13,7 Prozent. Vor allem Lohnabhängige abseits der boomenden Metropolen mit einem niedrigen Nettoeinkommen von weniger als 2000 Zloty (470 Euro) seien weiterhin bereit, auszuwandern oder saisonale Arbeitsgelegenheiten im Westen wahrzunehmen.

Diese polnischen Arbeitsmigranten können aber heutzutage auf den Bahnhöfen, in denen sie Züge gen Westen besteigen, durchaus ihren Leidensgenossen aus dem Osten begegnen, die in Polen auf Arbeitssuche ankommen, um den Folgen von Wirtschaftszerfall und Bürgerkrieg zu entfliehen. Seit dem westlich gesponserten Umsturz in der Ukraine ist die Zahl der ukrainischen Wanderarbeiter und Tagelöhner in Polen, wo Ukrainer zeitlich beschränkte Arbeitsvisa erhalten können, stark angestiegen: Für rund eine Million ukrainischer Arbeitsmigranten beginnt somit der Westen im Osten der EU.

Dabei spiegelt die ukrainische Arbeitsmigration nach Polen gewissermaßen die polnische Auswanderung nach Westeuropa. Es sind vor allem schlecht bezahlte und unbeliebte Tätigkeiten, die nun Ukrainer in Polen verrichten - ähnlich den polnischen Arbeitsmigranten in Westeuropa. Hierzu zählen vor allem saisonale Arbeiten in der Landwirtschaft, wie Erdbeerpflücken oder Spargelstechen, sowie die körperlich zehrenden Tätigkeiten in der Bauwirtschaft.

Der sprichwörtliche polnische Klempner in Großbritannien - er habe nun eine ukrainische Entsprechung in Polen, erläuterte The Economist unter Verweis auf einen Unternehmer, der Ukrainer für diesen Job einstellt, da sie "nur die Hälfte kosten und sehr respektabel" seien.

Schwarzmarkt für ukrainische Tagelöhner

Neben der legalen Arbeitsmigration gibt es inzwischen auch einen Schwarzmarkt für ukrainische Tagelöhner, der aufgrund der jüngsten europäisch-ukrainischen Regelungen zur Aufhebung der Visapflicht noch rasch anschwellen dürfte. Vor allem in diesem lax kontrollierten Schwarzmarkt häufen sich Berichte über extreme Ausbeutung, Drohungen und schlichten Betrug, den die rechtlosen Arbeitsmigranten ausgesetzt seien.

Die Dimensionen der Migrationswelle werden etwa am Beispiel des Arbeitsmarkts in der polnischen Stadt Kalisz offensichtlich: Arbeitete dort 2013 nur 527 ausländische Arbeitskräfte, so sind es nun 10.700 vornehmlich ukrainische Migranten. Hierbei handelt es sich nicht um Bürgerkriegsflüchtlinge (nur 16 ukrainische Staatsbürger haben diesen Status 2016 in Polen erhalten), sondern um Migranten aus dem Westen der Ukraine, die der extremen Armut in dieser sozioökonomischen Zusammenbruchregion zu entfliehen versuchen.

Einer Studie des polnischen statistischen Amtes zufolge kommen mehr als zwei Drittel aller ukrainischen Arbeitsmigranten aus dem Westen des Landes, der innerhalb der Ukraine die unterentwickelte Peripherie bildet. Rund die Hälfte dieser Migranten arbeitet als Tagelöhner, während der Rest längerfristigen Arbeitsverhältnissen nachgeht. Die meisten Ukrainer in Polen arbeiten auf dem Bau, gefolgt von der Landwirtschaft, dem Hotelgewerbe, den Haushaltsdienstleistungen und dem Einzelhandel. Ukrainische Migranten verdienen in der Großregion Warschau im Schnitt zwischen 650 (Bau) und 450 (Haushaltshilfen) Euro. Angesichts der zerrütteten Verhältnisse in der Ukraine ist dies ein Spitzenlohn.

Für Polens Unternehmerschaft stellen diese Wanderarbeiter einen wichtigen Hebel dar, mit dem ein weiterer Anstieg des immer noch sehr niedrigen Lohnniveaus hinausgezögert werden kann. Das Lohngefälle zwischen Polen mit dem Mindestlohn von rund 350 Euro und Westeuropa stellt immer noch den wichtigsten Konkurrenzvorteil des Landes dar, dass in unmittelbarer Nähe zum Exportweltmeister Deutschland jahrelang billige Arbeitskräfte anzubieten hatte - dies gilt auch für qualifizierte Arbeiten, die in Polen mit Löhnen von umgerechnet 800 bis 1000 Euro Brutto entlohnt werden.

Der Zufluss von billigen Arbeitskräften ermögliche es, den "Inflationsdruck" in Polen zu vermindern, wie es ein Analyst gegenüber Bloomberg formulierte. Hierdurch könne der Leitzins über längere Zeit niedrig gehalten werden, was das Wirtschaftswachstum stimuliert würde. Das Lohnwachstum in Polen habe 2016 vier Prozent betragen - ohne die Migrationsbewegung aus der Ukraine wären die Löhne noch schneller angestiegen, warnte Bloomberg.

Zugleich gaben Unternehmensvertreter gegenüber Bloomberg zu bedenken, dass es nicht nur wirtschaftliche Erwägungen seien, die die polnische Migrationspolitik gegenüber der Ukraine prägen. Es sei vielmehr "eine Kombination aus nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Gründen, die zu der außergewöhnlichen Größe der ukrainischen Migration beigetragen haben", wie es Jakub Binkowski, Migrationsexperte der polnischen Unternehmerunion gegenüber Bloomberg formulierte.