"Die Krise des Journalismus ist eine Krise der Journalisten"

Bild: Tages-Anzeiger

Interview mit Michael Marti, Mitglied der Chefredaktion des Tages-Anzeigers

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wen hat es in den Redaktionen zu Zeiten, als es noch kein Internet gegeben hat, wirklich interessiert, ob Leser mit der gebotenen journalistischen Leistung zufrieden waren? Michael Marti, Mitglied der Chefredaktion des Tages-Anzeigers , hat im Interview mit Telepolis eine klare Antwort auf die Frage, nämlich: "niemanden". In der Vor-Internetzeit, so Marti, habe es keinen gekümmert, wie ein Leser das Medium bewerte, sofern nur die Auflage hoch genug war.

Ein Interview mit dem "Leiter Digital Newsnet" über Bewertungskultur, Datenanalysen, überforderte und nichtüberforderte Journalisten sowie Medien, die ihre Leserforen dicht machen. Für Marti sind Medien, die ihre Leserforen abschalten, nicht mehr interaktiv und "dann ist das so, als ob Sie mit einem Farbfernseher nur schwarz-weiß gucken".

Herr Marti, in einem aktuellen Artikel schreiben Sie: "Es gibt kaum einen zweiten Berufsstand, der die Bedürfnisse seiner Zielgruppen so lange und so skrupellos ignorieren konnte wie derjenige der Journalisten." Was führt Sie zu dieser Aussage?

Michael Marti: Ich frage zurück: Wen von uns Schreibern interessierte es in der Print-Epoche wirklich, wie viele Leserinnen und Leser einen Zeitungsartikel lasen? Wen von uns interessierte es, ob sie bis zum letzten Satz dranblieben - oder schon nach dem Lead absprangen? Wen hatte es zu kümmern, ob die Leser zufrieden sind und sich kompetent informiert fühlten nach der Lektüre eines Beitrages? Ich würde mal sagen: niemanden.

So lange die Auflage hoch war, so lange die Inserate-Einnahmen flossen, war das alles egal. Und wenn es einer doch hätte wissen wollen, dann wären die Messungen, etwa durch einen Copy-Test, fürchterlich kompliziert und teuer gewesen. Pointiert ausgedrückt: In der Print-Epoche galt vor allem das Urteil, der Applaus der Journalisten-Kollegen. Oder dann eine Reaktion der Politiker oder Experten, über die man schrieb.

Der Wandel in den Medien macht sich an vielem bemerkbar - auch an den Daten, die heutzutage über die Mediennutzer und ihr Verhalten zur Verfügung stehen.

Michael Marti: Das trifft zu. Die Digitalisierung bedeutet für Journalisten und Medienhäuser, dass sie immer mehr über ihre Nutzer und deren Verhalten wissen. Die Menge und die Dichte von Nutzerdaten wächst stetig, dieser Datenbestand wird zum zentralen Faktor für zukunftsfähige Geschäftsmodelle - sei es bei der Herstellung, dem Vertrieb oder der Vermarktung publizistischer Inhalte.

Michael Marti. Bild: Rita Palanikumar

Relevante und lange Texte über anspruchsvolle Themen funktionieren

Nun bietet der Tages-Anzeiger den Lesern die Möglichkeit, die Artikel zu bewerten. Unter jedem Beitrag der Redaktion befinden sich zwei Balken, die in Prozentangaben zeigen, ob die Leser den jeweiligen Artikel "lesenswert" finden. Weshalb diese Neuerung?

Michael Marti: Diese Neuerung steht für die Überzeugung, dass ein qualitatives Feedback entscheidend ist, um die Zufriedenheit unserer Leserinnen und Leser zu messen. Denn bisher wussten wir vor allem, wie oft ein Artikel angeklickt wird - das erzählt nur die halbe Geschichte. Wir wissen damit zwar, wie attraktiv das Thema ist, wie schnittig die Headline, wie zugkräftig das Bild. Aber ob unsere Leserinnen und Leser nach dem ersten Klick, nach der Lektüre des Artikels zufrieden sind mit der redaktionellen Leistung, ob sie den Text für "lesenswert" befinden, dies lässt sich aus den Klicks alleine nicht ableiten. Deshalb fragen wir am Ende des Artikels: "Ist dieser Artikel lesenswert?"

Welches Bild bietet sich Ihnen aus den bisher betrachteten Analysen?

Michael Marti: Wir erlebten eine Überraschung, und zwar eine erfreuliche. Wir konnten eine große Kongruenz von Nutzerfeedbacks und publizistischem Selbstverständnis der Redaktion feststellen. Denn die Wertungen der Leserinnen und Leser zeigen: Traditioneller Qualitätsjournalismus, relevante und lange Texte über anspruchsvolle Themen funktionieren sehr wohl, selbst auf dem Smartphone.

Die Kernressorts Wirtschaft, Ausland, Schweiz schneiden im Urteil der Leserinnen und Leser überdurchschnittlich gut ab - wohingegen die Wertungen bei Sport- und Panorama-Stoffen signifikant tiefer sind. Und Soft-Themen wie Fitness, Mode, Lifestyle bewerten unsere User am tiefsten, das heißt also: betrachten sie als am wenigsten lesenswert.

So genannte "Soft-Ressorts" und Boulevard-Themen schneiden schlecht ab, anspruchsvolle und relevante Themen hingegen gut: Was heißt das? Dass Journalisten mitunter ihre Leser unterschätzen?

Michael Marti: Das ist in vielen Fällen tatsächlich so, gerade im Online-Journalismus. Es heißt doch immer wieder: Stelle einen Text über Sex, Streit oder Skandale ins Netz - und die Leser sind zufrieden. Aufwändig recherchierte, lange, komplexe Texte werden online nicht gelesen, schon gar nicht auf dem Smartphone, so ein weiteres Vorurteil. Aber das Gegenteil ist wahr, das zeigen die Nutzerdaten.

Welchen Nutzen haben diese Resultate?

Michael Marti: Zum einen versuchen wir natürlich, unsere Berichterstattung in denjenigen Bereichen zu intensivieren, die eine hohe Wertung durch die Nutzer erzielen; wir ziehen die Daten also heran für redaktionelle Entscheide und den gezielten Einsatz unserer Ressourcen. Zum anderen lassen sich auch für die Umsetzung von Storys sehr spezifische Schlüsse ziehen. Nur die wichtigsten Learnings:

- Es braucht kein aufwändiges Storytelling, um gute Leserwertungen zu erreichen. Ein starkes Bild und ein solider Text reichen allemal für hohe Ratings.

- Wenn Storys multimedial mit Videos etwa oder interaktiven Grafiken angereichert werden, dann müssen diese Elemente tatsächlich textdienlich sein und vor allem einwandfrei funktionieren.

- Denn ist multimediales Storytelling nicht souverän umgesetzt, dann reagiert die Leserschaft negativ mit einem Downrating.

Wie wir sehen, helfen uns diese großen Datensätze, Beiträge auch formal zu optimieren, um im besten Fall so die Zufriedenheit der Leser zu erhöhen.

Bild: Tages-Anzeiger

Gibt es auch einen unmittelbar kommerziellen Nutzen dieser Analysen?

Michael Marti: Ja. Redaktionellen Nutzerdaten kommt eine direkt wirtschaftliche Bedeutung zu, es gibt einen Link von den Daten aus dem Newsroom zum Business. Eine naheliegende Frage ist doch: Lässt sich ein gut bewerteter Artikel gut als Premium-Content verkaufen?

Und in der Tat: Erste Auswertungen von Premium-Content-Käufen auf unseren Websites zeigen, dass zahlpflichtige Artikel mit hoher Leser-Bewertung eine gute Konversionsrate aufweisen, das heißt: öfter gekauft werden als Artikel mit einer schlechten Wertung. Es sind dies oft Storys, die nahe an den Leserinnen und Lesern dran sind: Service-Geschichten mit einem direkten Nutzen, aber auch lebensnahe Geschichten, Schicksal-Storys, die Identifikation und Learnings anbieten.

Ist die Zahl der Klicks gar nicht mehr wichtig?


Michael Marti: Mitnichten. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das alles bedeutet nicht, dass eine Redaktion sich nicht mehr um die Reichweite, um die Klicks, zu kümmern braucht. Damit ein Artikel überhaupt erst gelesen wird, um allenfalls dann für lesenswert befunden zu werden, muss er attraktiv genug präsentiert sein.

In einer Zeit, in der Redaktionen unter hohem Konkurrenzdruck stehen, müssen Journalistinnen und Journalisten möglichst viele Artikel publizieren, die beide Kriterien erfüllen: ein hohes Qualitätsrating und eine hohe Reichweite. Umgekehrt kann es sich eine Redaktion nicht mehr leisten, Beiträge zu publizieren, die wenige Leser erreichen und obendrein tief geratet werden.