Nordsyrien: Türkische Provokationen an der syrischen Grenze

Zerstörte Häuser in Rakka. Screenshot, YPG-Video, Twitter

Das Verhältnis zwischen Washington und Ankara könnte schlechter nicht sein. Al-Qaida macht Probleme in Idlib. Die SDF dringt in Rakka weiter vor

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Die Türkei verstärkt ihre Militärpräsenz an der Grenze zu Syrien. Täglich greifen türkische Truppen und ihre islamistischen Verbündeten den Kanton Afrin und die Sheba-Region an. Auch in Kobane wird von Angriffen der türkischen Armee berichtet.

Das Verhältnis zwischen Washington und Ankara könnte schlechter nicht sein, denn die USA durchkreuzen mit ihrer Unterstützung der kurdisch-arabischen Syrian Democratic Forces (SDF) immer wieder die Pläne Ankaras. Die Türkei ist außenpolitisch komplett gescheitert. Es gibt kaum noch ein Land, das sich nicht über die Unberechenbarkeit Erdogans und seiner Außenpolitik beschwert.

Vor allem dank der Türkei ist die Provinz Idlib mittlerweile in den Händen von Al Qaida, was der internationalen Koalition einige Kopfschmerzen bereitet. Längst wird in der Anti-IS Koalition über eine längerfristige Kooperation mit der nordsyrischen demokratischen Föderation nach Rakka nachgedacht. Russland und die USA scheinen in der Syrien-Frage das Kriegsbeil begraben zu wollen. Einiges deutet auf eine vorsichtige Annäherung hin. Ob sich das Assad-Regime dem noch entgegenstellen kann, ist die Frage.

Türkische Angriffe auf Afrin und die Sheba-Region

In der Nacht zum Samstag verlegte das türkische Militär weitere Artillerie in die Provinz Kilis an der Grenze zum syrischen Kanton Afrin. Nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Dogan handelte es sich um Haubitzen, Panzer und Militärfahrzeuge. Afrin ist einer der Kantone der nordsyrischen demokratischen Föderation und wird seit Wochen immer wieder von der türkischen Armee mit Artillerie angegriffen.

Die SDF konnten die Angriffe bislang abwehren und ein Vorrücken der türkischen Truppen verhindern. Im Dorf Merinaz schoss die YPG einen türkischen Panzer ab. Die Dörfer Merinaz, Qestel Cindo and Celibirin standen in den letzten Tagen unter starkem Beschuss. Zivile Opfer durch den Artilleriebeschuss der Türkei konnten die SDF jedoch nicht verhindern.

Offensichtlich versucht Erdogan mit diesen Scharmützeln und Drohgebärden, die SDF im Kampf gegen den IS bei Rakka zu schwächen und weiteres Chaos zu schaffen. Er will um jeden Preis verhindern, dass das basisdemokratische Modell der nordsyrischen Föderation Schule macht und sich auf ganz Nordsyrien ausweitet.

Doch längst schon wird nicht nur in den USA darüber nachgedacht, die erfolgreiche SDF in weitere Operationen gegen den IS und andere islamistische Milizen nach der Eroberung von Rakka einzubeziehen, etwa in Deir el-Zor Richtung irakische Grenze oder in Idlib südlich von Aleppo. Die USA unterstützen die SDF mit umfangreichen Waffenlieferungen.

Deshalb spuckt die türkische Regierung Gift und Galle und lässt ihre Hofberichterstatter gegen die USA hetzen: "Es regnet Kalaschnikows", schrieb jüngst die türkische Tageszeitung Hürriyet. Fast 1.000 LKWs mit amerikanischem Militärgerät sollen in den vergangenen Wochen über den Irak an die SDF geliefert worden sein. Neben 12.000 Sturmgewehren sollen sie auch gepanzerte Fahrzeuge, Maschinengewehre und Panzerabwehrwaffen erhalten haben.

Die Nachrichtenagentur Anadolu veröffentlichte die genauen Standorte der US-Militärbasen in dem Gebiet der nordsyrischen Föderation. Die USA sah dadurch das Leben von US-Soldaten vor Ort gefährdet. Dem US-Gesandten Brett Mc Gurk für Nordsyrien wirft das AKP - Propagandablatt Yeni Safak vor, für den Tod von 46.000 Zivilisten in Syrien und im Irak verantwortlich zu sein. Zuvor hatte Mc Gurk der Türkei vorgeworfen, mit Al Qaida verbündete islamistische Gruppen, wie Ahrar al-Sham, in der Provinz Idlib, mit Waffen zu unterstützen.

Nur durch die Unterstützung der Türkei konnte die Region, die an der türkischen Grenze zum Hatay liegt, zum Rückzugsort von Al Qaida werden, so die Kritik Mc Gurks. Prompt forderte die türkische Regierung die Absetzung des US-Sondergesandten.

Trump ist kein Verbündeter Erdogans

Trotz dieser Kritik und diverser Verschwörungstheorien, die in der Türkei seit jeher Hochkonjunktur haben, bleibt US-Außenminister Rex Tillerson gelassen. Die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei seien derzeit "ein wenig unter Stress", meinte Tillerson kürzlich. Erdogans Hoffnung, im Hardliner Trump einen Verbündeten zu haben, hat sich, wie seine gesamte Nah-Ost-Politik, zerschlagen.

Zwar reden beide vom "Kampf gegen Terroristen" in Syrien, aber sie reden von unterschiedlichen Akteuren. Erdogan meint damit die "bösen" Kurden der PYD und die abtrünnigen Araber der SDF; Trump meint den IS und andere islamistische Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden. Gleichzeitig unterstellt das Erdogan-Blatt Yeni Safak den USA, sie planten einen neuen Putsch gegen den türkischen Präsidenten.

Die an die SDF gelieferten Waffen seien in Wirklichkeit für einen Angriff auf die Türkei bestimmt. Denn, so der Chefredakteur Ibrahim Karagül, Israel, Europa und die USA würden die Zerstückelung der Türkei anstreben und einen Kurdenstaat im Norden Syriens forcieren. Merkwürdig nur, dass die syrischen Kurden gar keinen eigenen Kurdenstaat haben wollen. Der entsteht gerade im Nordirak unter dem konservativen Stammesfürsten Massud Barsani.

Idlib in der Hand von Al-Qaida

Unterdessen ging auch der Plan der Türkei, die an Afrin angrenzende Provinz Idlib durch die syrische Proxy-Truppe Ahrar al Sham unter ihre Kontrolle zu bringen, nicht auf. Unter dem Namen "Schwert des Euphrat" startete die Türkei eine neue Interventions-Operation, die sich vor allem gegen Afrin und die Sheba-Region richtet, aber gleichzeitig die syrische Provinz Idlib unter ihre Kontrolle bringen sollte.

Dieses Ansinnen scheiterte, weil sich Ahrar al-Sham und die Al Qaida-Gruppe Hayat Tahrir al Sham (HTS) in Idlib im gegenseitigen Machtkampf bekriegen. Der ehemalige Al-Nusra Führer Abu Mohammad al-Jolani, der heute die al-Qaida Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) anführt, brauchte Ende Juli nur 3 Tage, um Ahrar al-Sham in die Grenzen zu weisen.

Ahrar al-Sham und seine Verbündeten mussten sich nach Süden ins ländliche Hama zurückziehen. Mittlerweile kontrolliert HTS die meisten Gebiete mit Grenzübergängen in die Türkei, außer dem Grenzübergang Bab al-Hawa nach Cilvegözu/Türkei. Dabei war es Ankaras Plan, mit der Operation "Schwert des Euphrat", ihre verbündeten Milizen im Gebiet um Azaz und Al-Bab zu mobilisieren, um die SDF aus Tel Rifaat und Menagh zu vertreiben und einen Korridor zwischen Azaz und Idlib zu eröffnen.

Darüber hinaus sollte Idlib unter die Kontrolle Ankaras gebracht werden. Schließlich sollte das Gebiet nach der Erklärung in Astana/Kasachstan von Russland und der Türkei zur Deeskalationszone erklärt werden.

Michael Ratney vom US State Department bezeichnete die Machtübernahme von Hayat Tahrir al Sham als große Gefahr für Nordsyrien. In der Provinz Idlib leben mehr als zwei Millionen Menschen. Viele Islamisten aus Aleppo sind nach der Rückeroberung der Stadt durch die syrische Armee mit ihren Familien in die Provinz Idlib geflohen. Die Türkei unterstützte auch die chinesischen Uiguren, die sich dort den Islamisten angeschlossen hatten.

Dies bescherte dem türkischen Außenminister bei seinem Chinabesuch Anfang August eine ordentliche Rüge Chinas, welches die spätere Rückkehr kampferprobter islamistischer Uiguren befürchtet. Die Provinz Idlib ist nun die einzige Provinz, die komplett in der Macht der Islamisten ist.

Ratney sagte, mit der Machtübernahme von Al Qaida unter neuem Namen sei es schwierig geworden, Russland von neuen Luftschlägen in der Region abzuhalten. Für die USA sei es ebenfalls schwierig, die beteiligten internationalen Parteien davon zu überzeugen, keine militärischen Maßnahmen in der Region zu ergreifen.

Zumal es fraglich ist, ob sich die Türkei auf eine militärische Konfrontation mit der HTS an ihrer Grenze zum Hatay einlassen will, denn die HTS hat mittlerweile mehr als 19 verschiedene islamistische Gruppen als Verbündete. Jabhat Fatah al-Sham, unter dessen Schirm HTS agiert, soll einem Bericht von Al-Monitor zufolge, 1.500 Kämpfer, die zuvor in der Grenzregion zwischen Syrien und dem Libanon gegen die Hizbollah gekämpft hatten, nach Idlib bringen. Das bedeutet, dass eine erfahrene Kampfabteilung HTS verstärken wird.

Eine Intervention der Türkei in der Region Idlib würde bedeuten, dass sie Gruppen auf syrischem Territorium den Krieg erklärt, die sie bis vor Kurzem noch finanziert, ausgebildet und ausgerüstet hat. Die angedrohte türkische Intervention in Afrin gegen die Kurden scheint angesichts dieser Entwicklung erst mal abgewehrt zu sein.