Sahra Wagenknecht und die Philosophie

Aus dem Buch "Couragiert gegen den Strom. Über Goethe, die Macht und die Zukunft!"

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In der Politik spielt Kultur normalerweise nur eine Nebenrolle, als Kulturpolitik oder bei bestimmten Anlässen, bei denen man sich mit dem schönen Schein umgibt. Die meisten Abgeordneten im Bundestag sind Juristen, gefolgt von Lehrern, Politologen und Volkswirten. Sahra Wagenknecht hingegen kommt von der Literatur und der Philosophie in die Politik, hat sich mit Goethe den Blick auf die Gesellschaftskritik und die Wirtschaft geöffnet oder sich durch Hegels Logik, vermutlich eines der schwersten philosophischen Werke überhaupt, hindurchgewühlt. Bekannt wurde sie als Linke, die sich nicht kopfüber vom Kommunismus verabschiedete, die aber gleichzeitig stets modisch gekleidet auftrat und in Wort und Verhalten eine ästhetische Form zelebrierte.

Florian Rötzer hat in einem langen Gespräch mit Sahra Wagenknecht, aus dem das Buch "Couragiert gegen den Strom. Über Goethe, die Macht und die Zukunft!" wurde, u.a. darüber gesprochen, wie Kultur und philosophisches Denken die politischen Vorstellungen und den politischen Stil der linken Politikerin geprägt haben. Was hat das Leben in der Partei und als Abgeordnete aus der Kultur und den Vorstellungen eines gelungenen Lebens gemacht? Telepolis veröffentlicht einen Auszug aus dem Buch, das gerade im Westendverlag erschienen ist.

Sahra Wagenknecht, Florian Rötzer: Couragiert gegen den Strom. Über Goethe, die Macht und die Zukunft. Westendverlag. 224 Seiten. 18 Euro (E-Book: 13,99 Euro)

Sie haben 1988 die Schule mit dem Abitur abgeschlossen. Hatten Sie da schon die Vorstellung, Philosophie studieren zu wollen?

Sahra Wagenknecht: Ja, natürlich, ich hatte mich ja für ein Philosophiestudium beworben. Ich habe Abitur auf einer EOS gemacht, einer Erweiterten Oberschule, so hießen damals die Gymnasien, die allerdings erst in der elften Klasse begannen. Bis dahin gab es eine gemeinsame Schule für alle. Schon zur EOS war ich trotz Einser-Zeugnis nur mit Schwierigkeiten zugelassen worden. Ich hatte mich nie durch gesellschaftliche Arbeit, wie das damals hieß, hervorgetan, also durch Funktionen oder besondere Aktivitäten im Rahmen der FDJ.

Der Grund dafür war einfach, dass mich das nicht interessierte und mir auch nicht lag. Dadurch galt ich als politisch irgendwie zweifelhaft. Genau genommen stimmte das nicht. Ich hatte ja schon vor Abschluss der zehnten Klasse von Goethe über Hegel zu Marx gefunden. Von da an habe ich mich aus voller Überzeugung als Sozialistin verstanden. Das bedeutete allerdings nicht, dass ich die DDR gut fand, sondern dass ich die Verhältnisse in der DDR mit den Idealen der Väter und Mütter der sozialistischen Bewegung konfrontierte und in diesem Abgleich zu einem eher negativen Urteil über den damaligen Realsozialismus kam. Das habe ich auch ausgesprochen. Ich wurde daher als politisch nicht zuverlässig angesehen. Und deswegen war das dann schon schwierig mit dem Abitur.

Sie haben dann nach dem Abitur auch die militärische Ausbildung verweigert?

Sahra Wagenknecht: Zivilverteidigung hieß das, es war eine Art vormilitärischer Ausbildung während der EOS-Zeit.

Man könnte aus Ihren Bemerkungen schließen, dass Sie solche Organisationen wie die FDJ oder das Militär weniger aus ideologischen Gründen, sondern eher wegen ihrer Hierarchie ablehnten.

Sahra Wagenknecht: Ich fand schon damals alles schwer erträglich, was den Menschen seiner Individualität beraubt. Gerade diese vormilitärische Ausbildung, die zwei Wochen dauerte, war darauf angelegt, zu uniformieren und einem jede Privatsphäre, jede Individualität zu nehmen. Wir waren in einem Lager, mit mehreren Mädchen in einem Zimmer. Tagsüber musste man Uniform tragen, und zum Essen wurde im Gleichschritt marschiert. Da war bei mir der letzte Rest von Appetit natürlich weg. Ich habe auch sehr darunter gelitten, dass es keine Rückzugsmöglichkeiten gab, keinen Ort, wo man mal allein sein konnte. Es waren nur zwei Wochen, da könnte man sagen, "Okay, das wird sie ja wohl überleben", aber für mich war das wirklich schlimm. Dazu kam der militärische Drill. Wir mussten mit Gasmaske herumrennen und haben geübt, dass man sich, wenn die Atombombe fällt, hinter einen Erdhügel legen soll. Das sind auch nicht unbedingt Gedanken, mit denen man sich gerne beschäftigt. Man konnte sich dem auch nicht verweigern. Ich habe diese Übungen also notgedrungen mitgemacht, aber ich konnte unter diesen Bedingungen einfach nichts mehr essen, weil es mir elend ging. Das wurde mir als Protest ausgelegt, aber das war kein Hungerstreik, das war eigentlich nur ein Aufschrei. Aber im Ergebnis wurde festgestellt, ich sei nicht kollektivfähig.

Diese mangelnde Kollektivfähigkeit war dann auch das Ausschlusskriterium für das Studium?

Sahra Wagenknecht: Ja, ich bekam eine Beurteilung, dass ich mich doch erst einmal in einem Arbeitskollektiv bewähren sollte, bevor ich studiere. Dieses Arbeitskollektiv wurde mir dann auch zugewiesen, das war in der Verwaltung der Humboldt-Universität, wo ich als Sekretärin arbeiten sollte. Die Leute, mit denen ich da zu tun hatte, waren alle sehr nett zu mir, und ich hatte auch nicht viel zu arbeiten, also ein gemütlicher Job. Aber er bedeutete, dass ich statt Hegel und Kant zu lesen einen Schreibmaschinenkurs machen und dann Briefe und andere Schriftstücke abtippen musste. Unmittelbar vorher war mein Alltag aber dadurch bestimmt, dass ich mich weiter in die Philosophie eingelesen hatte und wusste, wie viel es da noch gibt, was ich noch nicht kannte. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Lebenszeit wegläuft. Das mag jetzt rückblickend seltsam erscheinen, wenn jemand erst 19 ist und das Gefühl hat, dass das Leben zerrinnt, wenn er ein Jahr lang keine philosophischen Schriften liest. Aber mir ging es so. Selbst wenn man eine Lebenszeit von achtzig, neunzig Jahren hat, ist ein Jahr ziemlich viel. Ich hatte damals die Vorstellung, meine Lebensaufgabe könnte sein, ein neues philosophisches System zu entwerfen, so wie Hegel, aber für die heutige Zeit. Ich wollte keine Zeit verlieren, um auf diesem Weg voranzukommen. Deswegen habe ich diesen Job nach drei Monaten gekündigt, weil er in meinen Augen Zeitverschwendung war. Danach habe ich Nachhilfeunterricht in Mathe und Russisch gegeben, um davon mein Leben zu finanzieren. In der Schulzeit hatte ich das auch schon oft gemacht, deswegen wusste ich, dass ich das kann.

Das war 1988. Spielte die Atmosphäre, dass es möglicherweise mit der DDR oder ihrer Regierung zu Ende gehen könnte, in Ihre Entscheidung oder Ihre Unfügsamkeit hinein?

Sahra Wagenknecht: Das war 1988 noch nicht abzusehen. Nur der Niedergang, die Versteinerung, das war spürbar. Ich war zunächst eine glühende Anhängerin von Gorbatschow, weil ich gehofft hatte, dass er solche Reformen voranbringt, wie ich sie mir gewünscht hätte. Ich habe damals nicht von der Wiedervereinigung geträumt, die Bundesrepublik war ja für mich ein fremdes Land, das ich gar nicht kannte. Ich habe mir gewünscht, dass die DDR sich so verändert und reformiert, dass sie das verkörpert, was ich unter Sozialismus verstand, dass sie attraktiv wird, dass die Leute sie gut finden, alle nur noch dort hinwollen und keiner mehr weg. Das war mein Traum. Dass Gorbatschow das einleiten könnte, war leider ein Irrtum. Aber damals war das meine Hoffnung.

Und diese Hoffnung wurde nicht von dem Verhalten des Systems Ihnen gegenüber erstickt, mit dem Zwang zu militärischem Drill und Kollektivverhalten?

Sahra Wagenknecht: Wenn man bei Marx oder Rosa Luxemburg nachliest, wie sie sich den künftigen Sozialismus vorstellten, dann hätte es all das ja nicht mehr gegeben. Für mich war Sozialismus die Realisierung dieser großen Ideale. Es war die Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Leute menschlich miteinander umgehen, in der jeder seine Würde wahrt, wo jeder sich entwickeln und entfalten und keiner mehr den anderen ausbeuten kann. Das hatte ich mir unter Sozialismus vorgestellt. Von Ökonomie hatte ich damals noch wenig Ahnung, aber das war so das grobe Bild. Das hatte natürlich mit vormilitärischer Ausbildung, Uniformen, Zwang und anderen Dingen überhaupt nichts zu tun, es war das genaue Gegenteil. Deswegen habe ich die DDR auch immer wieder kritisiert, vor allem auch die Realitätsferne der damaligen politischen Führung. Es gab Wandzeitungen, an die habe ich auch mal einen längeren Artikel drangeheftet, auch wenn er dann nicht allzu lange daran hing. Ich habe meine Kritik durchaus vorgebracht, allerdings schon immer sehr deutlich mit der Ausrichtung, dass ich nicht will, dass der Laden zusammenbricht, sondern dass er sich verändert. Das war meine Haltung.

Als ich damals diese Arbeit an der Uni gekündigt habe, ging es vor allem darum, mir die ersehnten Freiräume zum Lesen schaffen zu können. Und ich habe auch nie wieder so viel Zeit für Lektüre gehabt wie in dem guten Jahr zwischen Herbst 1988 und Februar 1990, als ich dann endlich anfangen konnte zu studieren. In jener Zeit habe ich nahezu alle zentralen Werke der Weltphilosophie durchgearbeitet, also gelesen und mir danach Notizen gemacht und das Wichtigste rausgeschrieben. Das war ein unheimlich produktives Jahr, aber es ging mir trotzdem nicht gut. Ich wusste ja nicht, wie es weitergeht. Im schlimmsten Falle musste ich damit rechnen, dass ich nie die Chance haben würde, an eine Uni zu kommen, geschweige denn, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Ich wollte später irgendwo arbeiten, wo ich die Beschäftigung mit der Philosophie zu meiner Profession machen konnte. Aber das war überhaupt nicht in Aussicht und das hat mich ziemlich belastet. Ich habe versucht, diese Gedanken mit einem dichten Tagesplan zu verdrängen, der eben morgens um zehn Uhr oder vielleicht auch später anfing, aber dann bis tief in die Nacht ging. Ich habe den ganzen Tag gelesen, alles Mögliche: Philosophie, Marx, von dem ich nach dieser Zeit fast alles kannte, und natürlich immer noch klassische Literatur.

Philosophisch war es Hegel, der mich am meisten prägte. Ich finde Hegel bis heute genial, nicht nur wegen seines universellen Anspruchs, sondern auch wegen seiner Abrechnung mit dem Kapitalismus, der in seinem Werk unter dem Begriff 'bürgerliche Gesellschaft' vorkommt und ausgesprochen kritisch analysiert wird. In seiner Rechtsphilosophie etwa, in der Hegel Arbeitslosigkeit und soziale Kontraste vorhergesagt.

Zum Buch von Sahra Wagenknecht "Couragiert gegen den Strom" hat der Westendverlag ein Videointerview mit ihr geführt und sie über ihre Politik, die SPD, Lobbyismus, Politikverdrossenheit und auch Goethe als einen der ersten Kapitalismuskritiker befragt.

Lernen von den Meistern

Was haben Sie denn von Hegel zuerst gelesen?

Sahra Wagenknecht: Von Hegel habe ich zuerst die Ästhetik gelesen. Weil ich von der Literatur kam, war die Ästhetik für mich erst einmal das Interessanteste. Danach nahm ich mir die Logik und vor allem die Geschichte der Philosophie vor. Viele Philosophen habe ich danach erst einmal im Licht der Hegelschen Interpretation gelesen.

Wie Goethe war Hegel auch noch, zumindest dem Anspruch nach, ein Universalgelehrter. Goethe wollte neben Literatur oder Theater auch Naturwissenschaft betreiben, Hegel hatte hingegen den Anspruch, ein allumfassendes philosophisches System zu errichten. Sie sagten, Sie hätten selber mal den Traum gehabt, so ein System für die Gegenwart aufzustellen. Wäre so etwas überhaupt noch vorstellbar?

Sahra Wagenknecht: Unter Einbeziehung der Naturwissenschaften ganz sicher nicht mehr, weil die so spezialisiert sind, dass selbst ein Physiker, der in seinem Fachgebiet eine Koryphäe ist, schon in anderen Bereichen gar nicht mehr auf dem neuesten Stand der Forschung mitreden kann. Es ist völlig unmöglich, sich mal eben einen Überblick über die neuesten Entwicklungen in sämtlichen Naturwissenschaften zu verschaffen. Bei Hegel sind nicht zufällig die Bemerkungen über die Naturwissenschaft die am meisten veralteten, weil die Wissenschaft, auf die er sich bezog, schon seit langem überholt ist. In politischen und ökonomischen Fragen dagegen ist Hegel teilweise verblüffend aktuell. Ein Denken, das Zusammenhänge begreift und in dem etwa auch die Ökonomie als eingebettet in historische Zusammenhänge, Traditionen und politische Institutionen verstanden wird, halte ich für sehr wichtig. Das Problem des heutigen Mainstreams in der Volkswirtschaftslehre ist ja gerade, dass es in ihm keine Geschichte und keine Politik gibt und Institutionen kaum behandelt werden. Die schönen eleganten mathematischen Gleichungen, die ewige Zusammenhänge beschreiben sollten, sind vielfach so sinnentleert und wirklichkeitsfremd, dass damit eben auch keine ernsthaften Voraussagen oder Erklärungen von Ereignissen möglich sind.

Auch die Politikwissenschaft oder die Soziologie haben sich so separiert und teilweise ihre eigenen Codes entwickelt, die für Fachfremde kaum noch verständlich sind. In der Ökonomie ist das aber noch schlimmer, weil die Modelle auf Formeln beruhen, für deren Verständnis man höhere Mathematik braucht, sonst weiß man gar nicht, was da überhaupt gesagt wird, und kann natürlich auch nicht merken, auf welch tönernen Füßen die imposanten Modelle stehen. Dass es eine Volkswirtschaftslehre geben muss, die Soziologie, Geschichte und Politik einbezieht, um Zusammenhänge wirklich zu verstehen, finde ich absolut richtig und wichtig.

Es gibt immer wieder Werke, die das tatsächlich auch versuchen. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty ist beispielsweise kein Mainstream-Ökonom, der nur Formeln aufstellt, sondern in seinem Werk Das Kapital im 21. Jahrhundert versucht, ein Gesamtbild zu entwerfen und eine langfristige Entwicklung darzustellen. Auch die Ordoliberalen, Walter Eucken, Alexander Rüstow und andere, hatten noch eine politische Ökonomie. Früher hieß das tatsächlich Politische Ökonomie. Das war ein völlig richtiger Anspruch. Jetzt ist man der Überzeugung, man könne für alle Zeiten und alle Gesellschaften irgendwelche abstrakte mathematische Modelle entwerfen, aber das geht nicht.

Wie empfanden Sie die Zeit, nachdem Ihnen ein Studienplatz verweigert worden war?

Sahra Wagenknecht: Ich war hauptsächlich zu Hause und hatte nichts anderes als meine Bücher. Das war mein Leben. Durch die Umstände lebte ich natürlich auch sehr zurückgezogen. Alle meine ehemaligen Mitschüler waren an der Uni.

Die Punk-Zeit war schon vorbei?

Sahra Wagenknecht: Das war mit dreizehn, das war lange vorbei. Nein, ich hatte damals wenige Freunde, weil ich ja in keinen sozialen Bezügen mehr stand. Die einzigen Menschen, die ich regelmäßig getroffen habe, waren meine Nachhilfeschüler. Und ab und an meine Mutter und meine Großeltern. Ich habe zu dieser Zeit sehr zurückgezogen gelebt, aber ich habe eben diese Zeit dann auch maximal genutzt.

Gab es damals jemanden, mit dem Sie etwa über Hegel diskutieren konnten, jemand, der sich in der Philosophie auskannte?

Sahra Wagenknecht: Als ich das erste Mal Hegels Logik gelesen habe, war ich tatsächlich am Verzweifeln. Wenn keiner da ist, der einem etwas zur Hegelschen Logik sagen kann, dann ist sie kaum verständlich. Man kennt auch die Hintergründe nicht, so sollte man zum Beispiel Hegels Geschichte der Philosophie unbedingt vorher lesen, dann versteht man die Logik schon besser. Ich habe mich zunächst einmal an der Logik versucht, aber wenig verstanden. Der Einzige, den ich damals kannte, mit dem ich über so etwas reden konnte, war der Dramatiker Peter Hacks. Ich kannte ihn persönlich, weil ich seine Dramen großartig fand und ihn noch während meiner Abiturzeit angeschrieben hatte. Er hatte mir damals das Buch von Georg Lukács über Hegel empfohlen, um einen gewissen Zugang zu erhalten.

Haben Sie damals auch schon geschrieben, also versucht, das Gelesene in irgendeiner Weise umzusetzen?

Sahra Wagenknecht: Ich hatte damals immer das Prinzip, mir nach dem Lesen eines Buches ein Exzerpt zu machen, dazu habe ich natürlich auch immer eigene Gedanken aufgeschrieben. Aber ich habe keine eigenen Texte verfasst, weil ich erstens nicht das Gefühl hatte, dass ich schon so weit bin, und zweitens sowieso keine Möglichkeit gehabt hätte, etwas zu veröffentlichen. Diese Exzerpte habe ich alle noch, aber sie sind kaum leserlich, weil es damals noch keinen Computer gab und ich alles handschriftlich aufgezeichnet habe. Aus Nostalgie habe ich damals mit Feder und Tusche geschrieben. Das sieht wirklich schön aus, aber sehr leserlich war es nicht. Im Prinzip mache ich das bis heute so, wenn ich Bücher gelesen habe, die wirklich interessant sind oder in denen ich etwas wichtiges Neues finde.

Machen Sie das auch heute noch handschriftlich oder mittlerweile mit dem Computer?

Sahra Wagenknecht: Heute mache ich das mit dem Computer. So kann ich immer, wenn ich das Gelesene rekapitulieren will, mein Exzerpt anschauen. Während ich diese Stichpunkte mache, fange ich auch an, eigene Gedanken dazu aufzuschreiben. Diese Technik habe ich damals gelernt. Aber es war natürlich eine unglaubliche Befreiung, als ich dann endlich an die Uni kam und plötzlich mit Studierenden und Professoren reden und diskutieren konnte. Ich habe relativ frühzeitig auch Seminare gegeben, weil die Profs gemerkt haben, dass ich vieles bereits kannte. Schon kurz nach dem Studienbeginn konnte ich so den Studenten etwas erzählen. Heute heißt das Tutorium.

Seminare in klassischer Philosophie habe ich insofern weniger besucht als selber gegeben. Besucht habe ich Vorlesungen über die Dinge, die ich noch nicht kannte, beispielsweise über Wittgensteins Sprachphilosophie oder formale Logik.

Haben Sie denn auch Heidegger, Adorno oder andere Denker der Gegenwartsphilosophie in Westdeutschland verfolgt oder hat Sie das nicht interessiert?

Sahra Wagenknecht: Doch, Marcuse und Adorno habe ich im Studium gelesen, Heidegger kannte ich schon vor dem Studium. Ich hatte einige Bücher von Heidegger. In den Antiquariaten gab es vieles, ich habe ja meine Bücher überwiegend dort gefunden. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich nie einen Zugang zu Heidegger finden konnte. Ich fand ihn zunächst einfach düster und dann, als ich ihn verstanden habe, reaktionär.

Und zu Ernst Bloch mit seinem Prinzip Hoffnung, der müsste Ihnen doch eigentlich nahe gewesen sein?

Sahra Wagenknecht: Bloch habe ich gelesen, aber erst später. Bloch hat es in der DDR vielleicht nicht gegeben, weil er von einer Reise in die Bundesrepublik nie zurückgekehrt war.

Bestand anfangs eine enge Verzahnung zwischen Ihrem philosophischen Werdegang und der Politik? Hat sich das gegenseitig befruchtet?

Sahra Wagenknecht: Das politische Engagement war eine Konsequenz meines Weltbildes, das ich mir durch meine Lektüre von Philosophie und Literatur angeeignet hatte. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen eine bessere und gerechtere Gesellschaft verdienen, als sie sie heute haben, dass sie verdienen, in Verhältnissen zu leben, die ihre Würde nicht nur auf dem Papier, in schönen Verfassungen wahren, sondern in der Realität.

Eine Gesellschaft, die auf Egoismus und rücksichtsloser Ellenbogen-Mentalität beruht, ist nicht menschlich, denn der Mensch ist ein soziales Wesen und im Kern eben kein rücksichtsloser Egoist. Es gibt Bereiche, wo man Wettbewerb braucht, keine Frage. Aber man muss dafür sorgen, dass die Wirtschaftsordnung es nicht einigen wenigen erlaubt, sich zu Lasten aller anderen schamlos zu bereichern. Eine gerechte Ordnung muss jedem die Chance geben, seine Begabung zu entdecken, sie zu entwickeln und sich hochzuarbeiten. Aber das leistet die Wirtschaftsordnung, in der wir derzeit leben, nicht.

Sie sind dann später von der Humboldt-Universität in Berlin nach Groningen in den Niederlanden zu Hans Heinz Holz gewechselt. Warum?

Sahra Wagenknecht: Damals hatten alle Professoren an den ostdeutschen Unis Angst, entlassen zu werden. Die Ost-Universitäten wurden, wie das so schön hieß, evaluiert, und die Betreuung einer Arbeit über Karl Marx konnte schnell das berufliche Aus bedeuten.

In Groningen wird deutsche Philosophie auf Deutsch gelehrt, was ja auch sinnvoll ist, da sich Hegel sowieso kaum übersetzen lässt. Ich hatte alle Scheine beisammen und alle Prüfungen hinter mir und musste nur noch meine Abschlussarbeit schreiben. An der Groninger Uni hatte man zu Marx ein ganz entspanntes Verhältnis, und Hans Heinz Holz war ein renommierter Hegelforscher. So war das einfach eine gute Gelegenheit, das Thema zu wählen, das ich gerne wollte, nämlich das Verhältnis des jungen Marx zu Hegel.

Was interessierte Sie daran so besonders?

Sahra Wagenknecht: Ich finde, dass Hegel in der Rezeption, vor allem der eher links geprägten, Unrecht getan wird. Der junge Marx ist noch der unfertige Marx, der sich von Hegel loslösen, mitunter auch freikämpfen musste, weil er etwas Eigenständiges vorlegen wollte. Deswegen ist Hegel an einigen Stellen von ihm stärker kritisiert worden, als das meines Erachtens angemessen ist. Ich habe versucht herauszuarbeiten, an welchen Stellen Hegel tatsächlich mehr recht hatte als der junge Marx, wobei der ältere Marx das an vielen Stellen auch schon wieder anders gesehen hat.

Da könnte man aber sagen, das ist eine abgehobene Fragestellung.

Sahra Wagenknecht: Die Frage ist doch, was ist abgehoben? Philosophie ist immer ein bisschen abgehoben, wenn man das so nennen will. Aber ich finde, dass Philosophie eben auch bedeutet, über sehr allgemeine Zusammenhänge nachzudenken. Es geht bei der Hegel-Rezeption von Karl Marx um wissenschaftliche Methodologie, also etwa um das, was man damals unter Dialektik verstand. Das wurde oft mit der Formel "These, Antithese, Synthese" oder "A, nicht A und dann kommt irgendein Gemisch von beidem" banalisiert. Das sah Hegel ganz anders. Sein 'übergreifendes Allgemeines' ist eine sehr interessante philosophische Kategorie, weil sie ihr Gegenteil enthält, ohne eine kompromisslerisch dumme Beliebigkeit zu werden.

Das ist auch eine politische Frage, weil es einen Unterschied macht, ob ich beliebig bin und einfach keine Meinung habe und dann immer mit einem billigen Sowohl-als-auch argumentiere, um bei allen anzukommen und nirgends anzuecken. Oder ob ich mit einer klaren Überzeugung von einer bestimmten Position durchaus sehe, dass die gegenteilige Meinung auch eine Teilwahrheit enthält, vielleicht einen bestimmten Aspekt der ganzen Wahrheit, der es verdient, ernst genommen zu werden. Letztlich geht es darum, stets daran zu arbeiten, Einseitigkeit zu vermeiden und immer für möglich zu halten, dass auch die eigene Wahrheit nur eine Teilwahrheit ist. Dann bleibt man offen und kann sich auch weiterentwickeln, wenn es überzeugende Argumente gibt.

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