Das Blog der kleinen Dinge

Yoonjin Lee betreibt im Netz das "Little Lost Project". Sie verleiht Sachen, die wir ständig verlieren, eine Stimme.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Ursprünglich war es ein Schulprojekt. Die Schüler sollten etwas Geheimnisvolles auf der Straße erschaffen, und Yoonjin Lee dachte, dass es vielleicht interessant sein könnte, die kleinen Alltagsdinge zu vermenschlichen, die man überall auf den Straßen New Yorks herumliegen sieht – Feuerzeuge, Haargummis, MetroCards, Lippenbalsam, manchmal auch ganz einzigartige Sachen. So ein kleines Objekt würde eher bemerkt werden, wenn es mit einem beschrifteten Pappschild dran auf der Straße läge. "Ich dachte, es wäre schön, wenn die Leute die Botschaft lesen und einen Moment lang eine Beziehung zu dem Ding bekommen. Oder dass sich ihnen eine Geschichte dahinter eröffnet", sagt Lee.

Seit Oktober 2013 betreibt die in Queens geborene Yoonjin "Zoonzin" Lee nun ihr Blog Little Lost Project und die dazu passende Facebook-Seite. Das allererste Foto zeigt eine verlorene MetroCard der New Yorker U-Bahn, mit Beinen und Ärmchen aus Pappe, mit denen sie ein kleinen Schild festhält. Darauf steht gewissermaßen das Programm des ganzen Projekts: "HELP! I'M LOST". Wenig später kam die Facebook-Seite dazu. Dort sind auch Videos zu sehen, etwa von einem Zierkürbis, der nach Thanksgiving einfach ausgesetzt wurde.

Die 24-jährige wuchs abwechselnd in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul und auf Long Island auf. Sie hat die School of Visual Arts in New York absolviert und versucht mit ihrer Arbeit als freie Grafik- und Interaktions-Designerin, wie sie selbst sagt "etwas Magie in die profane Welt zu bringen". Sie erzählt auch gern Geschichten in Videoform. "Die Leute sagen, ich sei eine etwas verrückte Person, die gern tanzt und alberne Posen vor der Kamera macht."

Lee nimmt die Dinge, die sie auf der Straße findet, mit nach Hause, hängt ihnen kleine Schilder um und bringt sie wieder zurück. Sie versucht sich vorzustellen, "was dieses Ding durchgemacht hat, nachdem es jemandem aus der Tasche gefallen ist. Dann schreibe ich etwas, das dieses Ding sagen könnte, wenn es eine Persönlichkeit und eine Geschichte hätte." Eine zornige, verlorene Büroklammer würde zum Beispiel sagen: "Du verlierst mich. So verlierst du auch deine Zettel". Oder ein verlorener Handschuh: "Man sollte meinen, ein Paar Handschuhe sind für immer zusammen... Jetzt bin ich nutzlos."

Sie kümmert sich nicht um wichtige Dinge wie verlorene Smartphones, sondern um die weniger Wichtigen. Wenn man ein Smartphone verliert, würde man das sofort als Problem ansehen und Maßnahmen ergreifen. Man würde sich fragen, wo es ist – benutzt es jetzt jemand anderer? Ist es für immer weg? "Wenn man einen Haargummi verliert, ist das zwar lästig", sagt Lee, "aber man kann ihn leicht ersetzen. Wir vergessen den Haargummi schnell und halten diese kleinen Dinge im Leben für selbstverständlich. Ich dachte, es wäre interessant, sich mal zu überlegen, was dieser Haargummi jetzt macht, wo er verloren gegangen ist."

Ob das ihre Ihre spezielle, niedliche Version von Street Art sei? Bei Street Art denke man als erstes an Graffiti. An ernste Themen, die dargestellt werden. Aber sie sieht ihr Little Lost Project durchaus auch als Street Art. "Es ist für die Menschen auf der Straße gemacht. Sie können sich dran freuen und einen Moment nachdenken."

Lee flaniert gern und achtet dabei weniger auf ihr Smartphone, als auf ihre Umgebung. Dinge, die sie inspirieren, nimmt sie mit und denkt sich dann eine Geschichte für sie aus. Passanten, die ihre kleinen Dinge auf der Straße entdecken, machen meist Fotos und versuchen zu lesen, was auf den Schildchen steht. Manchmal steht Lee auf der anderen Straßenseite und beobachte, ob jemand die Dinge bemerkt. "Je kleiner sie sind, desto länger dauert es. Ich frage mich oft, was mit ihnen am Ende passiert."

Ob man eigentlich auch im Internet Dinge verlieren kann? "Ich kann", so die unromantische Einschätzung, "im Internet meine Identität verlieren". (bsc)