Bundestagswahlkampf: Als wäre Erdogan Kanzlerkandidat

Bild: Raimond Spekking/CC BY-SA-4.0

Warum der Schlagabtausch zwischen Deutschland und der Türkei in beiden Ländern innenpolitisch motiviert ist. Ein Kommentar

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Am nächsten Sonntag ist Bundestagswahl. Dass am Ende erneut eine Große Koalition stehen wird, scheint bereits sicher. Das könnte auch daran liegen, dass ein Wahlkampf selten mutloser und inhaltsärmer daherkam als 2017.

Dabei gäbe es so vieles, das angepackt werden müsste. Die erodierende Rente; die nach wie vor im EU-Vergleich zu verhaltene Lohnentwicklung; die daraus einhergehende soziale Spaltung und die Gefahr von Altersarmut; eine Reform der Sozialabgaben; eine Reform des Bildungssystems und seiner Finanzierung; eine viel mutigere Digitalpolitik, um zu verhindern, dass Deutschland in diesem Bereich noch weiter zurückfällt; das immer größer werdende Problem des Rechtsradikalismus und die Tatsache, dass wahrscheinlich mit der AfD eine rechtsradikale Partei in den Bundestag einziehen wird.

Stattdessen lassen sich die Parteien von eben dieser rechtsradikalen Partei die Themen diktieren, springen über jedes Stöckchen, das Gauland, Weidel und Co. ihnen mit großem Kalkül vor die Beine werfen. Und es gibt noch einen, von dem vor allem CDU und SPD sich treiben lassen: den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er ist omnipräsent im Bundestagswahlkampf. Und er macht es ähnlich wie die AfD: Er provoziert in der Hoffnung, dass ihm Empörung entgegenschlägt, die er wiederum für sich ausschlachten kann, nur um direkt die nächste Provokation hinterherzuschieben.

Aufmerksamkeitspolitik aus Machtinteressen in der Türkei und in Deutschland

Mehrere deutsche Staatsbürger sind in der Türkei in Haft. Die prominentesten sind die Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu sowie der Menschenrechtler Peter Steudtner. Aber selbst für Touristen ist eine Reise faktisch nicht mehr sicher. Zweimal kurz hintereinander nahmen die türkischen Behörden deutsche Ehepaare unmittelbar nach der Einreise fest, zuletzt am vergangenen Wochenende. Zwar sind sie auf freiem Fuß, dürfen aber das Land nicht verlassen. Offenbar wurden sie anonym als Anhänger der Gülen-Bewegung angeschwärzt. Den deutschen Schriftsteller Dogan Akhanli ließ die AKP in Spanien festsetzen. Zu einer Reisewarnung kann sich das Auswärtige Amt dennoch nicht durchringen.

Diese sprach aber nun die Türkei gegen Deutschland aus. Und prompt reagierten die Akteure im politischen Berlin. Erdogan sei wieder mal zu weit gegangen, polterten die einen. Dass das alles natürlich Blödsinn sei, die anderen. Stimmt natürlich. Umso peinlicher ist es aber, dass in dem Text, den die türkischen Behörden rausgaben, Dinge stehen, die kaum von der Hand zu weisen sind: Dass es vermehrt Angriffe auf Ausländer gibt; dass der NSU-Prozess, um es mal vorsichtig auszudrücken, problematisch ist. Und dann dieser Satz: "Politische Verantwortliche in Deutschland gestalten ihren Wahlkampf zunehmend über Türkei-Ablehnung und Verhinderung einer möglichen türkischen EU-Mitgliedschaft." Das sitzt. Weil es zwar so pauschal nicht wirklich richtig, aber doch sehr nah an der Wahrheit ist.

Darum aber geht es an sich nicht. Wenn man sich die Zeit nähme, könnte man den Text der türkischen Regierung Satz für Satz demontieren. Es bliebe von den Vorwürfen, so wie sie dargestellt sind, nahezu nichts übrig. Aber das scheint der gewollte Effekt zu sein: Widerspruch hervorzurufen, die Aufmerksamkeit zu bündeln, nur um dann sofort wieder nachzulegen. Der Vorwurf, dass Deutschland "Terroristen" schützt, kommt fast täglich aus Ankara. Mit der Realität hat er freilich nichts zu tun. Es mag sein, dass unter den tausenden Personen, die auf den Terrorlisten des türkischen Geheimdienstes MIT stehen, tatsächlich neben ideologisch Verfolgten auch echte Kriminelle oder gar Putschbeteiligte zu finden sind. Doch auch deren Auslieferung verbietet sich, solange ihnen in der Türkei Folter droht und sie keine Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren vor einem unabhängigen Gericht haben.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine tiefe Lücke

Da die Angriffe aus der AKP immer in dieselbe Kerbe hauen, wäre es ein Leichtes, sie einmal klar zu beantworten und fortan zu ignorieren, sich den wichtigen Dingen zuzuwenden. Aber mit klarer Kante gegen die türkische Regierung lässt sich in Deutschland gut Wahlkampf betreiben. Und je platter Schulz, Merkel und Co auf die Sticheleien reagieren, umso mehr Zuspruch scheinen sie zu ernten. Nur ist das ein Irrglaube - ebenso wie die Annahme, die AfD schwächen zu können, indem man ihr nachgibt, was die Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik getan hat. Man wird für die Wähler nicht überzeugender, indem man die eigenen Positionen aufweicht, anstatt sie zu verteidigen.

So forderte Martin Schulz ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen. Als ehemaliger EU-Politiker sollte er es eigentlich besser wissen. Fakt ist, dass die Beitrittsverhandlungen ohnehin weitgehend auf Eis sind und es einen EU-Beitritt der Türkei unter Erdogan gar nicht geben kann, seit dieser fast sämtliche im Beitrittsprozess realisierten Reformen über Bord geworfen hat. Darüber besteht Konsens, und auch rechtlich stellt sich die Frage gar nicht. Die Tür aber offen zu halten für eine mögliche Nachfolgeregierung hieße, jene zu unterstützen, die am Bosporus für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten. Ein Abbruch hieße, sie fallen zu lassen, auch für die Zukunft.

Erdogan mit klaren Argumenten zu begegnen, würde auch bedeuten, die eigene Mitverantwortung für seinen Aufstieg einzugestehen und einen Politikwechsel einzuläuten, der bislang nicht sichtbar ist. Noch im TV-Duell verteidigte Angela Merkel den Flüchtlingsdeal, der die wohl fatalste Entscheidung im Umgang mit Erdogan war. Denn dadurch hat man sich von ihm abhängig gemacht. Es würde auch bedeuten, dass man endlich die Waffenexporte beenden müsste, aber an denen hängen die Unionsparteien ganz besonders.

Vor diesem Hintergrund ist auch der Einsatz für verfolgte türkische Oppositionelle zweifelhaft. "Zu uns kann jeder Türke reisen", sagte Angela Merkel als Reaktion auf die türkische Reisewarnung. Ein seltsamer Satz, bedenkt man die Visapflicht und die sehr strengen Vergabekriterien. Hinzu kommt, dass man offiziell zwar die aus dem Land Flüchtenden unterstützen will. Faktisch aber lehnt Deutschland die Mehrzahl der Asylanträge türkischer Staatsbürger ab. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine tiefe Lücke.

Anzunehmen ist daher, dass die markigen Worte tatsächlich nicht mehr sind als Wahlkampfgetöse. Man will Erdogan damit gar nicht erreichen. Sondern die deutschen Wähler. Nur um dann nach der Wahl so weiterzumachen wie davor. Aus Wahltaktik riskiert man, nicht nur die türkische Community in Deutschland noch weiter zu spalten, sondern auch einen Keil zwischen beide Länder zu treiben. Und das in einer Zeit, in der das Gegenteil dringend vonnöten wäre.

Die Türkei wird für jede deutsche Regierung sowohl wirtschaftlich als auch geostrategisch von hoher Relevanz bleiben. Gerade deswegen darf man nicht akzeptieren, dass das Land zur Diktatur wird. Dass es der Bundesregierung seit Monaten nicht gelingt, deutsche Staatsbürger aus türkischer Haft zu befreien, ist eine Bankrotterklärung, die sich auch durch die oft wiederholten schönen Worte und Wünsche nicht übertünchen lässt.

Die Bundesregierung und die AKP machen mit dem jeweils anderen Land dasselbe: Innenpolitik. Die Außenpolitik, die zeitgleich stattfindet, hat damit allenfalls sehr eingeschränkt etwas zu tun.