Moskau: Frischer Wind in den Wahlbezirken

Jugendliche auf der Anti-Korruptions-Kundgebung von Aleksej Navalny am 26.03.2017. Screenshot von wsjo pro wsjo

Gemischtes Bild bei den russischen Kommunalwahlen: Signale der Veränderung in Moskau und traditionelles Verhalten in der Provinz. Der große Trend bleibt der Patriotismus

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Die Russen lieben die Stabilität. Angesichts der angespannten internationalen Lage und trotz sozialer Einschnitte halten sie weiter zu Wladimir Putin und der Kreml nahen Partei Einiges Russland. Das ist das wichtigste Ergebnis der russischen Kommunalwahlen, die am 10. September in 82 Regionen stattfanden. Bei den Moskauer Bezirksparlaments-Wahlen erhielt die Kreml-nahe Partei Einiges Russland 76 Prozent der Stimmen und 1.151 der 1.502 Mandate.

Moskau: Überraschungserfolge für Liberale

Doch in Moskau gab es zwei Überraschungen. Die in der Duma vertretenen Oppositions-Parteien stürzten ab, die KPRF von 212 auf 43 Mandate, die Partei Gerechtes Russland von 128 auf zehn Mandate und die Liberaldemokraten von Schirinowski von 25 auf vier Mandate. Der Grund war offenbar, dass viele Moskauer die drei Oppositions-Parteien in der Duma als verlängerten Arm der Macht wahrnehmen, nicht aber als effektive Alternative.

Die zweite Überraschung bei den Moskauer Wahlen war das gute Ergebnis der liberalen Kandidaten, die auf den Listen von Jabloko, Dmitri Gudkow, Solidarnost und PARNAS kandidierten. Die Liberalen bekamen insgesamt 15 Prozent der Stimmen und eroberten 267 Sitze in den Moskauer Bezirksparlamenten. In sieben Bezirken - darunter auch im Gagarin-Bezirk, wo Wladimir Putin wählte, bekam die sozialliberale Partei Jabloko die Mehrheit der Sitze.

Der Jabloko-Vorsitzende Sergej Mitrochin kündigte seine Kandidatur zu den Moskauer Bürgermeisterwahlen 2018 an. Der Vorsitzende der 1993 gegründeten Partei wird aber kaum solch einen Erfolg einfahren wie der Blogger Aleksej Nawalny, der bei den Bürgermeisterwahlen 2013 27 Prozent der Stimmen bekam. Mitrochin spricht eher die Intellektuellen an. Im Gegensatz zu Navalny ist Mitrochin kein Populist, der breite Massen mitreißen kann und zu diesem Zweck auch gegen Kaukasier und Arbeitsmigranten aus Zentralasien hetzt.

Mit welchem Programm traten die liberalen Kandidaten bei den Moskauer Wahlen auf? Sie versprachen eine bürgernahe Politik. Sie wollen die Bürger unterstützen gegen unüberlegte Baumaßnahmen wie den Abriss aller Plattenbauten aus den 1960er Jahren, die große Anzahl gebührenpflichtiger Parkplätze sowie die Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich. Und natürlich sind sie gegen die Korruption.

"Gruß aus der Breschnjew-Zeit"

Der russische Journalist Andrej Babitsky, der früher bei Radio-Swoboda in Prag arbeitete, im Zuge der Ukraine-Krise aber ins russisch-patriotisch Lager überwechselte, war vom Wahlausgang in Moskau begeistert.

Er freute sich bei der Vorstellung, dass die Beamten von Einiges Russland, "die gerne essen und an ihren Sesseln kleben" sich jetzt in den Bezirken "mit lebhaften, unruhigen und lustigen Jungen und Mädchen über den Haushalt und die Entwicklung der städtischen Bezirke streiten müssen". Einige Kandidaten von Einiges Russland - so Babitsky - wirkten mit ihren Programmen "wie ein Gruß aus der Breschnjew-Zeit".

Euphorie bei den Linken: "Bezirks-Revolution"

Euphorie gab es nach der Moskauer Wahl nicht nur im liberalen, sondern auch im linken Lager. Der Leiter des Instituts zu Globalisierung und sozialen Bewegungen, Boris Kagarlitsky, meinte, in Moskau habe eine "Bezirks-Revolution" stattgefunden. "Was wir sehen ist ein weitreichender Prozess der Veränderung." Das Bestreben der Macht, die Wahlen im Land unter Kontrolle zu halten, sei in Moskau gescheitert.

Es sei der Macht nicht gelungen, die große Zahl von 7.500 Kandidaten zu kontrollieren. Deshalb habe das Bürgermeisteramt die Werbung für die Wahlen in Moskau auf fast Null heruntergefahren. Dass die Stadtverwaltung die Feiern zum 870ten Stadtgeburtstag einen Tag vor den Bezirks-Wahlen durchführte, trug dazu bei von den Wahlen abzulenken.

Doch die List der Stadtverwaltung habe sich nicht ausgezahlt, da die Opposition ihre Anhänger über das Internet zu den Wahlen mobilisierte. Überdurchschnittliche Wahlerfolge habe die liberale Opposition aber nur im Stadtzentrum, im Südwesten und Norden der Stadt erreicht - so Kagarlitsky - dort also, wo traditionell die Intelligenz wohnt. In den eher proletarisch geprägten Vierteln am Stadtrand habe die Partei Einiges Russland besser abgeschnitten.

Dass es in Moskau keine größeren Wahlfälschungen gab, hänge - so der Politologe - damit zusammen, dass es selbst unter den Beamten Unzufriedenheit gibt und keine Bereitschaft, sich an Fälschungsmanövern zu beteiligen.

Mit Stadtteilarbeit politisch überleben?

Wie politisch überleben angesichts einer Politik, in der westlich orientierte Liberale immer mehr an den Rand gedrängt werden? Ein kleiner Teil der russischen Liberalen emigrierte nach Kiew oder in die EU. Der große Rest hofft jetzt in Form einer Graswurzelbewegung politisch zu überleben.

Mit guten Ergebnissen bei den Bezirksparlaments-Wahlen könne man "die Lobbyisten in der Bürgermeisterverwaltung" unter Druck setzen und sogar die politische Richtung in Russland ändern, meinte Dmitri Gudkow - bis 2016 Duma-Abgeordneter von Gerechtes Russland - auf einer Versammlung von Oppositions-Kandidaten für die Moskauer Bezirksparlamente.

Der 37 Jahre alte Gudkow versuchte die liberalen Oppositionskandidaten mit Geldsammlungen und Schulungen für den Wahlkampf in Moskau vorzubereiten. Und er schaffte es 971 Kandidaten auf seiner Liste zu vereinen. Die Initiative des liberalen ex-Abgeordneten war erfolgreich. In zwölf Moskauer Bezirken bekamen die Kandidaten der Gudkow-Liste zwei Drittel der Sitze im Bezirksparlament (Grafik).

Die Gudkow-Liste zu den Moskauer Bezirksparlaments-Wahlen war ein parteiübergreifendes Projekt. Die Liste vereinigte den Großteil der 177 Jabloko-Kandidaten, einen Teil der unabhängigen Kandidaten, aber auch einzelne Kandidaten aus der KPRF, der sozialdemokratischen Partei Gerechtes Russland, der liberalen Partei des Wachstums und der liberalen Partei PARNAS. 267 Kandidaten der Gudkow-Liste wurden am 10. September in Moskauer Bezirksparlamente gewählt.

Ein Ziel der liberalen Opposition war es, einem liberalen Bürgermeisterkandidaten den Weg zur Kandidatur zu ebnen. Doch dieses Vorhaben scheiterte. Selbst wenn die liberalen Abgeordneten sich mit den Abgeordneten der KPRF zusammenschließen, haben sie nicht genug Stimmen, um einem Oppositionskandidaten zu den Bürgermeister-Wahlen 2018 aufzustellen.

Dafür müssen sie den sogenannten "munizipalen Filter" knacken. Wer für das Amt des Bürgermeisters kandidiert, braucht die Unterschriften von 110 Bezirksabgeordneten sowie Unterschriften von Abgeordneten aus drei Viertel aller 125 Bezirksparlamente. Letztere Bedingung wurde bei dieser Wahl nicht erfüllt. Bei der Bürgermeisterwahl 2013 konnte der Blogger Aleksej Nawalny nur kandidieren, weil er Unterstützer-Unterschriften auch von Abgeordneten der Partei Einiges Russland bekam.