NSU-Prozess: Die Bundesanwaltschaft zerstört den Rechtsstaat

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Wie im falschen Film: Mit ihrem manipulativen Verhalten täuscht die zentrale Strafverfolgungsbehörde Gericht und Öffentlichkeit - Ein Kommentar

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Angesichts des Schlussvortrages der Bundesanwaltschaft drängt sich mir die Frage auf, in welcher Welt Oberstaatsanwältin Greger in den letzten sechs Jahren gelebt hat, seitdem der rechtsterroristische NSU aufflog.

(Nebenklageanwalt Yavuz Narin, Stuttgarter Nachrichten, 1.8.2017)

Die Bundesanwaltschaft hat im NSU-Verfahren Staatsschutz im umfassenden Sinne betrieben - also auch Schutz vor einer zu weitgehenden Aufklärung und einer damit sicherlich einhergehenden Beschädigung des Verfassungsschutzes.

(Nebenklageanwalt Stephan Kuhn, Spiegel Online, 11.9.2017)

Die Bundesanwaltschaft sagt, bei dem Prozess gehe es nicht um Aufklärung, sondern um Bestrafung. Sie hat nicht Recht. Es geht um gesellschaftlichen Frieden, Bestrafung ist das Mittel, Aufklärung das Ziel.

(Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler, Kundgebung in Berlin, 17.9.2017)

Zur Zeit steht der NSU-Prozess in München wieder seit einer Woche. Die Nebenklage konnte bisher nicht mit ihren Plädoyers beginnen. Acht Tage lang hat die Anklagebehörde des Generalbundesanwaltes ihre Sicht vorgetragen. Die Inhaftnahme des Angeklagten André Eminger, der bisher auf freiem Fuß war, führte dann zu einem Ablehnungsantrag seiner Verteidiger gegenüber dem Gericht. Die Verteidigung von Ralf Wohlleben folgte. Darüber wird nun zunächst verhandelt.

Man kann den NSU-Komplex jedoch nicht verstehen, wenn man nur auf den Schauplatz München schaut. Was dort vor Gericht geschieht oder auch nicht geschieht, muss gemessen werden an dem, was an anderen Schauplätzen über den Skandal zu Tage gefördert wurde, zum Beispiel in den zahlreichen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen.

Erkenntnisse aus den U-Ausschüssen

Und auch was vor dem Oberlandesgericht in München eigentlich gespielt wird, erschließt sich nur schwer, wenn man die Erkenntnisse aus den U-Ausschüssen außer Betracht lässt. Kern des Konfliktes: die Trio-Theorie. Die Bundesanwaltschaft (BAW) reduziert den NSU auf Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe und traf die Festlegung, die unmittelbaren Täter seien die zwei toten Männer gewesen. Willkommener Nebeneffekt dieser Minimierung: Täter in den Reihen des Verfassungsschutzes sind rein rechnerisch ausgeschlossen.

Die in Karlsruhe sitzende Bundesbehörde ist die zentrale Figur des Verfahrens. Sie hat die Federführung, erteilt die Ermittlungsaufträge und ist im Besitz der Akten und Vernehmungsprotokolle. Sie entscheidet über Anklagevorwürfe und -erhebungen oder auch darüber, ob und wenn ja, welche Akten in den Prozess eingeführt werden. Die zu dem Kasseler Ex-Verfassungsschutzbeamten Temme wurden zum Großteil nie eingeführt.

Es war die BAW, die entschieden hat, dass konkret jene fünf Angeklagten sich vor Gericht verantworten müssen - und neun weitere Verdächtige bisher nicht. Unter diesen neun befindet sicher mindestens eine V-Person, wahrscheinlich mindestens zwei, außerdem Kontaktpersonen zu V-Personen. Was an Substanz in diesen neun weiteren Ermittlungsverfahren vorliegt, weiß bisher nur die Behörde allein.

Sammel- und Strukturverfahren mit dem Titel "NSU/Unbekannt"

Dasselbe gilt für ein weiteres, ein zehntes, sogenanntes Sammel- und Strukturverfahren mit dem Titel "NSU/Unbekannt". Darin soll alles gesammelt werden, was sich sonst noch so im Komplex NSU ergibt. Beispielsweise ein Zeuge, der eine Handyaufnahme vom Tatort Theresienwiese am Tattag des Polizistenmordes in Heilbronn besessen haben will. Was alles und was konkret sich im Verfahren "NSU/Unbekannt" befindet, ist - wie sinnig - "unbekannt".

Ein Opferanwalt wies jüngst darauf hin, dass sich die BAW mit diesen Parallelverfahren die Möglichkeit verschafft hat zu entscheiden, "welche Ermittlungsergebnisse dem Gericht vorgelegt werden - und welche nicht". Selbst eventuell relevantes Material für das laufende Zschäpe-Wohlleben-Eminger-Verfahren kann unbemerkt in den Parallelverfahren geparkt und so dem Zugriff auch der Nebenklage entzogen werden:

Wenn der Generalbundesanwalt nicht wollte, dass die Verfahrensbeteiligten Kenntnis einer Vernehmung erlangen, dann hat er den Zeugen im Strukturverfahren vernommen. So hatte er den rechtlichen Spielraum, die Vernehmung nicht dem Gericht vorzulegen.

(Rechtsanwalt Stephan Kuhn)