Vertuschung 2.0: Im Fall Amri erlebt man dieselben Methoden wie beim NSU-Skandal

Foto: Fahndungsplakat des BKA

Der Untersuchungsausschuss in Berlin ist mit massiven Widerständen seitens der Polizei konfrontiert

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Kaum hat der Untersuchungsausschuss zum Fall Anis Amri mit seinen öffentlichen Sitzungen begonnen, als er sich schon mitten im Behördensumpf befindet. Tricksereien innerhalb der Polizei, Verschleierungen, Intransparenz, begrenzte Aussagegenehmigungen für Zeugen - was Öffentlichkeit und Parlamente seit fünf Jahren im Mordkomplex NSU erleben, scheint sich nun zu wiederholen. Es ist der Skandal hinter dem Skandal - und ein alarmierender Zustand der bundesdeutschen Sicherheitsorgane.

Mit dem Namen "Anis Amri" ist der Terroranschlag vom 19. Dezember 2016 in Berlin verbunden. Mit einem LKW raste der Attentäter in die Menschenmenge des Weihnachtsmarktes auf dem Breitscheidplatz. Insgesamt starben zwölf Unschuldige, Dutzende wurden zum Teil schwer verletzt. Bisher versuchen zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse das Behördenhandeln im Fall Amri zu durchleuchten, einer in Nordrhein-Westfalen (NRW) und der in Berlin.

In der Hauptstadt stößt man von einer Manipulation auf die andere. Zunächst, im Mai 2017, hatte ein Sonderbeauftragter des Senats festgestellt, dass beim Landeskriminalamt (LKA) Ermittlungserkenntnisse über den bandenmäßigen Drogenhandel des Tunesiers Amri "abgeschwächt und zurückdatiert" wurden. Daraufhin erstattete der Innensenator selbst Strafanzeige gegen mehrere Polizeibeamte wegen Strafvereitelung. Und der Polizeipräsident richtete eine sogenannte Task Force mit dem Namen "Lupe" ein, um die Fälschungen zu untersuchen. Daran hängt die Frage, ob der spätere - mutmaßliche - Attentäter hätte festgenommen werden können oder müssen (Fall Amri: Manipulationen durch die Polizei ziehen immer weitere Kreise,

Der operative Leiter der Task Force war jetzt vor den Ausschuss geladen, er war der einzige Zeuge, nachdem sich der zweite, ein Ex-Innenstaatssekretär, kurzfristig krankgemeldet hatte.

Wenige Tage vor der Sitzung erfuhr man, dass es bei der Berliner Polizei bereits seit April 2017 eine interne Untersuchung über die Abläufe am Anschlagstag gab, verantwortlich eine sogenannte "Nachbearbeitungskommission". Dem Parlament war das nie mitgeteilt worden, nicht einmal als die Task Force "Lupe" bei der Polizei eingerichtet wurde.

In dem 120 Seiten starken Bericht der "Nachbearbeitungskommission", "Nakom-Bericht" genannt, werden "schwerwiegende Versäumnisse" in den Stunden nach dem Anschlag erwähnt. Ein falscher Verdächtiger wurde festgenommen, erst am 20. Dezember wurde die Tat als "Anschlag" klassifiziert, Amri hatte Zeit, die Stadt zu verlassen. Man habe ihn "sehenden Auges laufen lassen", so die Abgeordnete Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen).

Warum die Polizei eine zweite Untersuchungsgruppe einrichtet, während sie bereits eine erste betreibt, ist bisher unbeantwortet. Sollte die Existenz der "Nachbereitungskommission" und deren Ergebnisse verschleiert werden?

Vertuschung live

Welche Erkenntnisse hat nun die Task Force "Lupe" in den vergangenen vier Monaten über das Handeln der Berliner Polizei im Falle Amri gewonnen? Das sollte Kriminaldirektor Dennis Golcher, 46, der die Task Force anführt und koordiniert, den Abgeordneten erklären. Sein Auftritt geriet zu einer unfreiwilligen Demonstration der Verweigerung. Vertuschung live.

Zunächst reklamierte der Zeuge eine gravierende Einschränkung: Laut Aussagegenehmigung dürfe er nur Untersuchungsergebnisse bis zum 6. Juli 2017 preisgeben, was danach herausgefunden wurde noch nicht. Grund: Am 6. Juli konstituierte sich der U-Ausschuss des Abgeordnetenhauses, und in den Augen des Innensenats arbeitet ein U-Ausschuss immer retrograd. Eine konstruierte, aber vor allem freche Einschränkung, denn einen Untersuchungszeitraum legt das Parlament selber fest und nicht die Regierung. Außerdem definiert die Datumsgrenze 6. Juli 2017 ja nicht Ereignisse, die davor lagen, sondern was die Untersuchungsgruppe der Polizei bis dahin aufgearbeitet hat. Sämtliche Ereignisse lagen davor. So manipuliert eine Arbeitsgruppe, die aufklären soll, selber. Und ein Innensenator bremst die Aufklärung aus, die er gegenüber der Öffentlichkeit großmundig versprochen hat.

Jedenfalls: Wie eine Jokerkarte zog der Zeuge, Kriminaldirektor Golcher, immer wieder das "6. Juli"-Argument, um Angaben zu verweigern.

Beispiel: "Was hat die Task Force bezüglich der Manipulationsvorwürfe und Aktenfälschungen im LKA herausgefunden?", wollte der Ausschuss wissen, und Zeuge Golcher erklärte knapp, das sei "außerhalb der Aussagegenehmigung". Oder: "Warum wurde die Observation Amris beendet und wer hat das entschieden?" Antwort wieder: "Ist nicht von Aussagegenehmigung gedeckt." Im Laufe der Befragung kam nebenbei heraus, dass sich die Task Force bis zum Stichtag 6. Juli gar keinen Observationsbericht vorgenommen hat.

Insgesamt sollen bis zum 6. Juli 20 Vorgänge geprüft worden sein. Dabei seien "30 objektive Mängel" festgestellt worden, etwa die Hälfte in der niedrigsten Kategorie 1. Darunter fielen beispielsweise "Übersetzungsfehler, die keine Auswirkung auf das Ermittlungsergebnis" haben. In die zweitschwersten Kategorie 3 fielen fünf Sachverhalte. Darunter eine nicht durchgeführte Verknüpfung von Identitäten Amris, die zu einer Tat von ihm in Freiburg geführt hätten. In der höchsten Kategorie 4 habe es "keinen Vorgang" gegeben, so Golcher.

Das jedoch entpuppte sich als Täuschungsversuch des Zeugen, denn als einige Zeit später ein Abgeordneter (Karsten Woldeit, AfD) nachfragte, rückte Golcher seine Aussage zurecht: "Ich habe nicht gesagt, dass es insgesamt keine Versäumnisse der Kategorie 4 gab, sondern nur, dass wir bis zum 6. Juli keine gefunden haben."

Zur Kategorie 4 der Verfehlungen zählt beispielsweise, wenn das LKA eine schwere Köperverletzung als einfache Körperverletzung oder gewerbsmäßigen Drogenhandel als einfachen Drogenhandel klassifizierte. Wie viele Vorgänge der Fehlerkategorie 4 sie gefunden haben, wollte Golcher nicht sagen. Es müssen mindestens zwei gewesen sein, denn er sprach davon im Plural.

"Gab es vor dem Stichtag 6. Juli in der Mängel-Kategorie 1 Übersetzungsfehler", will der Abgeordnete Marcel Luthe (FDP) wissen, und Zeuge Golcher bejaht. Luthe: "Welchen?" Golcher: "Muss überlegen." Dann bittet er um eine kurze Pause. Die Sitzung wird unterbrochen, Golcher verschwindet, um zu telefonieren. Er sei sich unsicher gewesen, erklärt er nach seiner Rückkehr, ob der Vorgang vor dem 6. Juli war, und habe in der Task Force nachgefragt. Aber man habe ihm nicht helfen können, er müsse deshalb "zurückrudern - tut mir leid".

Die SPD-Fraktion sieht darauf hin von weiteren Fragen ab, um den Zeugen "nicht noch mehr in Schwierigkeiten zu bringen" (Frank Zimmermann). Die CDU-Fraktion schließt sich an.

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